Plötzlich blickt die ganze Welt auf Celle

Wie zwei CZ-Redakteure das ICE-Unglück von Eschede erlebten

CZ-Redakteur Michael Ende und der ehemalige CZ-Redakteur Joachim Gries haben das ICE-Unglück von Eschede hautnah miterlebt. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – als Helfer und Berichterstatter – schildern sie, wie die Katastrophe sie geprägt hat.

  • Von Cellesche Zeitung
  • 11. Mai 2023 | 12:48 Uhr
  • 25. Mai 2023
Die beiden CZ-Reporter Michael Ende (links) und Joachim Gries mit zwei Titelseiten der Celleschen Zeitung nach dem ICE-Unglück in Eschede. 
  • Von Cellesche Zeitung
  • 11. Mai 2023 | 12:48 Uhr
  • 25. Mai 2023
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Eschede.

Echte, schlimme Katastrophen. Die ereignen sich in der Regel ganz weit weg von Celle. Doch es gibt Tage, da kommt das Grauen direkt bis an die eigene Haustür. Der 3. Juni 1998 war so ein Tag. Als der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ in Eschede verunglückte und 101 Menschen starben, blickte die ganze Welt für einen Moment auf Celle. Die CZ-Redakteure Michael Ende und Joachim Gries waren damals vor Ort und haben die Katastrophe auf sehr unterschiedliche Weise erlebt.

„Los, zackzack – kommste mit? Bahnunfall in Eschede. Mehr weiß ich nicht. Gerade eben passiert, lass mal hinfahren!“

Der damalige CZ-Fotograf Peter Müller

So erlebte CZ-Reporter Michael Ende das Zugunglück

„Los, zackzack – kommste mit? Bahnunfall in Eschede. Mehr weiß ich nicht. Gerade eben passiert, lass mal hinfahren!“ Als unser damaliger Fotograf mir am 3. Juni 1998 gegen 11 Uhr diese Worte zurief, dachten wir nicht lange nach. Er, der alte Hase, und ich, der junge Redakteur, griffen uns Kamera und Stift und Block, sprangen ins Auto und flitzten los. Es versprach ein warmer, rundherum schöner Sommertag zu werden. Schwalben flitzten unter weißen Wolken übers Land. Wir flachsten während der Autofahrt, als wir daran dachten, dass uns wahrscheinlich irgendeine langweilige Lappalie erwarten würde. Ich tippte auf eine Güterlok, die an einer Weiche mit einer Achse aus den Schienen gesprungen sei und deren Räder nun neben der Spur stünden. „Hoffentlich kannst Du das überhaupt so fotografieren, dass man sieht, dass da was nicht stimmt“, sagte ich zu unserem Foto-Mann. Er lachte: „Egal. Wir machen das Foto, und auf dem Rückweg halten wir irgendwo an und essen ein Eis.“ Das mit dem Eis wurde nichts.

In eine ganz große Geschichte reingeschliddert

Wir kamen in Eschede an, und zunächst einmal sah das Dorf aus wie immer: Ziemlich ruhig alles. Als wir dann Richtung Bahnhof abbogen, erblickten wir aus der Entfernung ein Durcheinander und Gewusel, das so gar nicht nach einem Zug aussah, der unspektakulär neben den Gleisen steht. Wir kamen näher, und ich dachte: „Ach, du Scheiße.“ Genau das. Übereinander geschobene Waggons, erste Menschen, die versuchten, in die Waggons zu kommen, ein paar Feuerwehrleute, die nicht so recht wussten, wo sie anfangen sollten, und einfach loslegten. Auch wir Medien-Leute mussten unseren Job machen. „Nimm alle Filme mit, die du im Auto hast“, sage ich zum Fotografen. So schlimm das alles war: Ich wusste, dass wir da in eine ganz große Geschichte reingeschliddert waren.

"Als wir als allererstes Reporter-Team ankamen, gab es längst noch keine Absperrungen, alles ging drunter und drüber."

CZ-Redakteur Michael Ende

Mittendrin im Grauen

Und wir waren buchstäblich mittendrin. Als wir als allererstes Reporter-Team ankamen, gab es längst noch keine Absperrungen, alles ging drunter und drüber. Während rings um uns herum Helfer versuchten, Überlebende und Tote aus dem riesigen Schrottberg zu bergen, der bis kurz vorher eine High-Tech-Ikone gewesen war, dokumentierten wir die Ereignisse. Ich sprach mit Menschen, schrieb auf, was ich sah, betrachtete das Ganze wie ein schreckliches Bild, das ich ganz genau beschreiben wollte. Zuvor war ich mehrmals als Reporter in Bürgerkriegsgebieten in Bosnien-Herzegowina gewesen, hatte über Gewalt, Tod und Zerstörung berichtet. Auf dem Balkan hatte ich gelernt, das Grauen nicht allzu nah an mich heranzulassen. Und so versuchte ich auch mit dem Inferno von Eschede umzugehen. Ich sah zerfetzte Leichen, orientierungslose, schreiende Menschen, die in Panik herumirrten, verstörte Helfer, die angesichts des Elends weinten.

Hunderte von Helfern versuchen am 3. Juni 1998 im Wrack des verunglückten ICE 884 bei Eschede noch Opfer des Zugunglücks zu finden. 

Keine Zeit für Gefühle

Für Gefühle hatte ich keine Zeit. Da ich – vielleicht aus einer Ahnung heraus – das „Redaktionshandy“, damals das erste Mobiltelefon der CZ, eingesteckt hatte, konnte ich den CZ-Kollegen erste Eindrücke durchtelefonieren. Doch meine Reichweite war erheblich größer. Das Handy klingelte. Ich ging ran. „This is CNN, Atlanta“, hörte ich. Und die Frage, ob ich live und auf Englisch fürs Fernsehen direkt vor Ort berichten könnte. Ich tat's. Dann meldete sich auch noch NTV, so dass ich für jeden der beiden Nachrichtensender alle halbe Stunde ein „News Update“ ablieferte. Später hat man mir gesagt, dass im Fernsehen sogar ein Bild von mir eingeblendet worden sei. Weltweit live on air – wow. Erst als später genug Polizisten da waren, um den Ort des Geschehens abzusperren, war es irgendwann mit dem Berichterstatten direkt aus dem Hexenkessel vorbei. Am späten Nachmittag fuhr ich zurück in die Redaktion. Und schrieb meinen Beitrag für die CZ.

"Katastrophentourismus" beginnt

In den Tagen darauf stürzte sich die bundesdeutsche und internationale Medienmeute auf Eschede. Die Behörden organisierten einen regelrechten „Katastrophentourismus“ und kutschierten Journalisten-Gruppen auf Lastwagen-Ladeflächen durch die abgeräumte Todeszone. Man schauderte, war schockiert. Ein paar Tage lang. Dann war in der Welt der Nachrichten schon etwas anderes wichtiger.

So erlebte CZ-Reporter Joachim Gries das Zugunglück

„Der fährt ja viel schneller als der andere“ – der Besucher des Wintervergnügens im Januar vorm Escheder Bahnhof hatte nur seine Beobachtung in Worte gefasst. Der ICE in Richtung Hamburg donnerte im hohen Tempo am Bahnsteig vorbei, während auf dem Nachbargleis der ICE nach Süden bei gedrosselter Geschwindigkeit den Ort passierte. Da war sie wieder, die Erinnerung an das ICE-Unglück vom 3. Juni 1998 und an die Tage danach. Als uns bewusst wurde, war da eigentlich geschehen war. Als sich viele bewusst wurden, dass es noch schrecklicher hätte kommen können. Täglich war und ist zu beobachten, dass sich Züge im Bereich des Escheder Bahnhofs begegnen. Damals war der ICE nach Süden schon durch.

Ein unerklärliches Geräusch

Ein sonniger Frühsommertag, dieser 3. Juni 1998 in Eschede. Ein freier Tag mit Gartenarbeit. Bis da dieses Geräusch war, das mit der Bahn zu tun hatte. Ein paar Sekunden abgewartet, in denen sich das Geräusch nicht aufklärte. Ins Haus gelaufen, die Kamera, das Handy geschnappt, ins Auto gesetzt, durch die Sägemühlenstraße Richtung Rebberlaher Brücke gefahren. „Vielleicht war ja doch nichts.“

CZ-Reporter Joachim Gries (im roten Pullover) half bei den Bergungsarbeiten nach dem ICE-Unglück vom 3. Juni 1998.

Vielleicht war ja doch nichts?

Am Ende der Straße, die an der Bahn endet, zeigte jemand mit ausgestrecktem Arm nach Süden. Ein Mitarbeiter der Bahn, der dort wohnt, schwang sich gerade auf sein Fahrrad, folgte dem Fingerzeig. Aus den Augenwinkeln nahm ich das wahr.

Nur eine große Staubwolke zu sehen

Die Häuser am Achtergarten, am Jochenkamp versperrten den direkten Blick, nur eine große Staubwolke war zu sehen. Dann, nach dem Einbiegen auf die Rebberlaher Straße, bei der Fahrt zur Brücke war zu erkennen: Da war es passiert, das Bild war anders als sonst. Ich fuhr links neben der Brückenauffahrt in die Straße auf ein Grundstück. Ich rief die Zeitung an: „Zugunglück in Eschede, ein Fotograf, ein Redakteur.“ Da heulten in Eschede die Sirenen, alarmierten die Feuerwehr. Hilfe war unterwegs. Da hatte der Fahrdienstleiter den Lokführer über Funk informiert: „Du bist entgleist.“ Der vordere Triebkopf war abgerissen, als der erste Waggon des ICE den Zug bei voller Fahrt aufs Nachbargleis gelenkt hatte.

Die Kamera blieb im Auto

„Warum bist du hergekommen? Hau wieder ab.“ Fluchtreflex – ich blieb, die Kamera blieb im Auto. Wann habe ich erkannt, was da wirklich passiert war? Dass es ein ICE war, der da zerschellt war, dass die Brücke eingestürzt war? Erste Anwohner versuchten zu helfen. Ich verschaffte mir einen Überblick, ich stieg die Brückenböschung hoch. Ich sah in ein Trümmermeer. Mittendrin ein einzelner Helfer, neben ihm eine Person. Neben mir tauchte ein Mann auf. Überwältigt wie ich. Wir kletterten über die Kante, auf der schrägen Ebene der zusammengebrochenen Bücke nach unten. Betontrümmer, Koffer, Sitze, das ganze zerstobene Interieur eines modernen Zugs, dazwischen Menschen.

"Dort lag ein Kind, da waren ein paar Beine zu sehen. Neben uns türmten sich die Trümmer der Waggons auf."

Der ehemalige CZ-Redakteur Joachim Gries

Überlebende in den Trümmern

Ich hockte neben einer Frau, sie war ansprechbar, mit feinen Glassplittern von den Scheiben des Waggons übersät. Dort lag ein Kind, da waren ein paar Beine zu sehen. Neben uns türmten sich die Trümmer der Waggons auf, die der hintere Triebkopf gegen die zusammengestürzte Brücke gefaltet hatte. Oben tauchten die ersten Feuerwehrleute auf, Sanitäter, die erste Trage wurde runtergereicht. Die Frau war eine der ersten, die aus den Trümmern auf der Brücke geborgen wurde. Wir reichten sie nach oben, halfen, weitere Menschen aus den zermahlenen Waggons zu befreien. Bald stand ober der Fotograf, machte Aufnahmen.

Hilfe im Anmarsch

Ich fasste mit an, trug ein paar Verletzte zur Erstversorgung. Immer mehr Martinshorn aus allen Richtungen, immer mehr Hubschrauber in der Luft, beruhigende Geräusche: Hilfe im Anmarsch. Ich sammelte Eindrücke an der Unglücksstelle. Der fragende Blick eines Feuerwehrmanns, der über die abgerissene Oberleitung stieg, der hintere Triebkopf, der schräg im Schotter stand, bizarr verbogene Schienen, registrierte irgendwann die Seelsorger, den Notfallmanager, der auf der Brückenrampe abgedeckte Leichen zählte, die zusammengetragenen Koffer und Taschen.

Ein Konvoi aus Leichenwagen

Als ich zwei Stunden nach der Katastrophe die Unglücksstelle verließ, stand auf der Straße ein Konvoi aus Leichenwagen. Die Anwohner schauten zur Brücke, zu den unzähligen Fahrzeugen von Feuerwehr, Rettungsdiensten, Polizei, Bundeswehr.

Weltweites Medieninteresse

Zu Hause schrieb ich meinen ersten Text für die Zeitung, mailte ihn in die Redaktion. Bald meldeten sich Medien aus ganz Deutschland, wollten einen ersten Augenzeugenbericht. Anrufe aus den USA, am nächsten Tag meldete sich sogar Radio Neuseeland. In den nächsten Stunden kamen unzählige Übertragungsteams nach Eschede, die erste Pressekonferenz am Abend war überlaufen. Am nächsten Tag wurden nach dem Briefing Pressevertreter im Konvoi zur Unglücksstelle gebracht. Da hatte sich schon viel verändert, aber die Zerstörung war immer noch greifbar. „Bin ich froh, dass ich gestern nicht hier war“, sagte ein Kollege vom Fernsehen.

Bei jedem ICE, der den Ort durcheilt, sehe ich wieder die Feuerwehrleute vor mir, die damals mit Vorschlaghämmern in die Waggons eindringen wollten, um zu helfen.

Der ehemalige CZ-Redakteur Joachim Gries

Erinnerungen bleiben für immer

In Eschede wurden in den nächsten Tagen die Geräusche von den Bergungsarbeiten registriert. Mit Pressluftmeißeln wurden die Brückenteile zerlegt. Sonst war es ruhig, die Strecke musste erst wiederhergestellt werden. Als der Verkehr wieder aufgenommen wurde, registrierte ich genau jeden Zug. Das ist heute noch so, dass ich genau hinhöre. Dass ich bei ungewohnten Geräuschen auf die Uhr schaue, um die Zeit festzuhalten. Und bei jedem ICE, der den Ort durcheilt, springen mir die schwarz umrahmten Fenster, die sich heute öffnen lassen, quasi ins Auge. Dann sehe ich wieder die Feuerwehrleute vor mir, die damals mit Vorschlaghämmern in die Waggons eindringen wollten, um zu helfen.

Zerborstener Radreifen löst Katastrophe aus

Ich musste mir in den folgenden Monaten neben der fehlenden Brücke klarmachen, wie dieser zerborstene Radreifen, der fünf Kilometer vor Eschede Kerben in die Schwellen schlug, die Weiche verstellte, den Zug ins Schleudern brachte, dessen Waggons dann die Streben der Brücke weghauten, sie zum Einsturz brachten und so zur tödlichen Barriere für die folgenden Wagen wurden. Ich musste die Abfolge begreifen.

Gezeigt, dass Leben in Sekundenschnelle enden kann

Ich beschäftige mich nicht oft mit dem Unglück. Ich träume nicht davon. Es hat mir gezeigt, dass schreckliche Dinge passieren können, dass ein Leben in Sekunden ausgelöscht werden kann. Die Frage, ob wir wirklich so schnell unterwegs sein müssen, die wurde damals ja nur kurz diskutiert. Ich fahre gern mit der Bahn, mit dem ICE. Das ist fast selbstverständlich, haben doch mein Vater, mein Großvater bei der Eisenbahn gearbeitet. Ich bin schon aus einem im Tunnel gestrandeten ICE evakuiert worden und fühlte mich dabei gut betreut. Wenn mich am Bahnfahren etwas nervt, sind das die lieben Mitreisenden mit zischelnden Kopfhörern oder die Plauderer mit dem Handy am Ohr.

Von Michael Ende und Joachim Gries