Als die Celler noch zum Tiergarten pilgerten

Gab es da tatsächlich einen Affen? Michael Prietz (Jahrgang 1954), der als Kind häufig im Tiergarten zu Gast war, meinte sich daran zu erinnern, fragte aber lieber nochmal bei seiner Mutter nach. Auch sie bestätigte, dass dort immer ein kleiner Affe im Käfig saß, wenn die Familie zu Kaffee und Kuchen in den Kaffeegarten gekommen war. „Ich fand es immer irre, was da los war“, berichtet Michael Prietz, der sich auch noch an eine größere Vogelvoliere erinnert. Affe im Tiergarten hießt Mailchen: „Der Affe hieß Mailchen“, erzählt Margot Eggers (Jahrgang 1937). „Er hat immer die Brillen und Haarschleifen geklaut.“ Die heutige Klein Hehlenerin muss es wissen, denn sie wohnte – nachdem sie 1957 den Enkel von Willy Wienecke, Peter Eggers, geheiratet hatte – im Tiergarten und schenkte in dem Betrieb aus. Tiergarten wurde 1937 ins Handelsregister eingeladen: Wie aus den amtlichen Bekanntmachungen in der CZ vom 17. Juni 1937 hervorgeht, war die „Firma Tiergarten Celle, Willy Wienecke, in Celle-Lachtehausen und als deren Inhaber der Restaurateur Willy Wienecke“ ins Handelsregister A eingetragen worden. Elf Jahre zuvor war hier an der Einmündung der Lachte in die Aller das „Restaurant Schwalbenberg durch den Wirt Scheller gegründet“ worden, wie die Cellesche Zeitung am 8. November 1994 in einem Bericht über den Straßennamen schrieb. Seit 1975 heißt die Straße nämlich Tiergarten. „Eine private Flußbadeanstalt bot an dieser Stelle die Lachte und die prähistorische Sanddüne des Schwalbenbergs einen feinsandigen Strand“, heißt es in dem CZ-Artikel. „Mitte der 30er Jahre übernahm Willy Wienecke Gebäude und Garten und richtete hier eine ,Großrestauration mit Kaffeegarten‘ ein. Eben aber auch besagten Tiergarten, der ein Wildschwein- und Fuchsgehege, ein Hirschgehege und eine Übungsanlage für Jagdhunde enthielt und als Sensation einen Affenkäfig. Vögel liefen zwischen den Tischen umher und Pfauen schlugen ihre prächtigen Räder.“ Affe saß am Tresen bei Willy Wienecke: In Erinnerung ist aber vor allem Mailchen geblieben. Karl Wilkens (Jahrgang 1927) erinnert sich ebenfalls an das Äffchen, das im Käfig saß und dort Bananen aß. „Sonnabends saß Mailchen immer bei Wienecke an der Theke, da er sonst in seinem Gehege von den Leuten geärgert wurde“, erzählt Dieter Miers (Jahrgang 1932). Er kam immer zum Tanz in den Tiergarten, wenn in der Union „tote Hose“ war. „Im Tiergarten hat immer eine Combo um Dieter Tietze gespielt“, berichtet der Zeitzeuge. Zum Tanzen in den Tiergarten gekommen: Hella Stallbaum (Jahrgang 1929) hatte 1950/51 einen Freund in Altencelle. Von dort aus ging es mit der Clique zu Fuß über die hölzerne Allerbrücke, den sogenannten Sommerweg durch die Wiesen und den Sandkamp Richtung Tiergarten. „Dort hatten die Kaninchen kleine Gruben gegraben“, berichtet Hella Stallbaum. Vor allem auf dem Rückweg im Dunkeln trat der ein oder andere darein und landete mit dem Kinn im Sand. Zuvor war die Gruppe aber über einen kleinen Steg zum Tiergarten gekommen – im Gepäck selbstgebrannter Rübenschnaps. „Eine Flasche bekam immer die Bedienung ab“, sagt die Zeitzeugin. „Wir haben dann aus Tassen getrunken, damit es nicht so auffiel.“ Und dann wurde mitgesungen, gegrölt und „geschwoft, dass es nur so krachte“. „Im Parkett-Fußboden gab es eine kaputte Stelle. Wenn man da mit dem Hacken hängengeblieben ist, verlor man das Gleichgewicht“, sagt die Seniorin. Handgreiflichkeiten habe es nie gegeben. „Wir hatten alle unseren Spaß“, erzählt Hella Stallbaum. Und wenn am nächsten Tag gefragt wurde, wie es war, hieß es immer: „Jede Menge Barcelona.“ Zum Tanzen im Tiergarten kam 1954/55 auch Hans Hermann Meinecke (Jahrgang 1935). „Um zirka 23 Uhr war Schluss, und wir sind mit acht Personen zu Fuß in die Heese gegangen“, berichtet er. „Es war eine schöne Zeit.“ Teufelskuhle kostete Ruderern das Leben: Mit dem Bus über die damalige Lachtehäuser, heute Wittinger Straße oder zu Fuß über die Pfennigbrücke entlang der Aller und über die Freitagsgrabenbrücke sei die Wirtschaft zu erreichen gewesen, heißt es in der CZ vom 8. November 1994: „Oder man ließ sich mit einer Kahnfähre von der Blumlage her über die Aller setzen unter Vermeidung der ,Teufelskuhle‘, einem Stromwirbel des Flusses, der etlichen Ruderern seinerzeit das Leben kostete.“ Mit der Allerfähre zum Tiergarten: Auch Gottfried Rühmann (Jahrgang 1934) kam mit der „Allerfähre“ zum Tiergarten. In den Kriegsjahren war er häufig mit seiner Mutter und Tante gekommen, um Kaffee und Kuchen zu holen. „Es gab eine Drehtür, damit das Wild nicht rauslief“, erinnert er sich. Rehe, Wildschweine, Kaninchen und eventuell auch einen Esel habe es gegeben. „Zum Baden sind wir zum Schwalbenberg gefahren – das war unsere Badeanstalt“, erzählt der 86-Jährige. Aus Tiergarten wird Hotel Regina garni: Karl Ströher (Jahrgang 1937) hat mit seiner Elke 1964 im Tiergarten Hochzeit gefeiert, noch heute sind die beiden glücklich verheiratet. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem Tiergarten allerdings schon das Hotel „Regina“ garni geworden. „Wer den schönen Spaziergang entlang der Aller nach Lachtehausen macht, wird an dem idyllisch gelegenen Tiergarten verdutzt seinen Fuß hemmen, da er das alte Gebäude nicht wiedererkennen kann“, berichtete die Cellesche Zeitung am 8. Juli 1961. „Der bekannte Gastronom Toni Siehoff hat aus dem ehemaligen Tiergarten das Hotel ,Regina‘ garni entwickelt, das allerdings zuvor unter den geschickten Händen des Architekten Thielemann und der Handwerksmeister völlig umgewandelt wurde.“ Ein geschmackvoller Eingang, der hell und luftig in den großen Empfangsraum führe, lasse erkennen, dass eine moderne Linie in das Haus eingezogen sei. „Sämtliche Hotelzimmer sind nach neuzeitlichen Auffassungen bequem eingerichtet, weisen fließendes Wasser und zum Teil auch eingebaute Schränke auf, haben verschiedentlich extra Waschnischen und haben Zugang zu Badezimmern und Brauseräumen“, schrieb die CZ. Tassen und Kännchen aus Tiergarten: Noch im Besitz von Tassen und einem Kännchen des Tiergartens aus der Kriegszeit ist Ursula Göttker. Sie hat auch ein Luftbild von 1961, auf dem der Tiergarten zu sehen ist. „Die Zufahrt war damals von der Kastanienallee“, sagt sie. „Nachdem der Tiergarten kein Café-Restaurant mehr war, wurde er an Toni Siehoff verkauft, der Koch im Ratskeller war und dann am Torplatz sein Restaurant hatte.“ Wegen der vielen kleinen Zimmer mit Bad habe das Gebäude dann gut als Altersheim genutzt werden können. „Es gehörte einer Frau aus Hannover, die es an das Ehepaar Bittner vermietete“, erzählt die Lachtehäuserin. Als das Altenheim nach Bostel zog, habe das Gebäude etliche Jahre leer gestanden. Später wurde es dann renoviert, heute ist es ein Wohnhaus. Willy Wienecke kehrt in Tiergarten zurück: „Im Adreßbuch von 1952 ist ein E. Merzdorf als Besitzer des Areals genannt, der 1951 den offenbar im Krieg verwaisten Tiergarten wiedereröffnet hatte mit den Füchsen ,Bienchen‘ und ,Dina‘ und dem Wildschwein ,Peter‘ sowie einem Übungsbau für Dachse und Füchse“, schrieb die CZ 1994. Ein Saal für 250 Personen, zwei Weinstuben und der Garten für 1000 Personen nebst Tanzfläche hätten vom Wiederaufstieg gezeugt. „1955 ist erneut Willy Wienecke als Besitzer aufgeführt“, heißt es in dem CZ-Artikel. Über 50 Jahre verheiratet: Margot Eggers kann das bestätigen. „Willy Wienecke hatte die Stadtschänke übernommen“, berichtet sie. „Da seine Frau Anni aber sehr krank war, ist er dann wieder zum Tiergarten gekommen.“ Noch bevor sie ihren späteren Mann Peter kennenlernte, war Margot Eggers schon mal mit ihrem Bruder im Tiergarten zum Tanzen. „Mein Mann hat später erzählt, dass er mich da schon vor dem Spiegel gesehen hat“, sagt die Witwe, die ihren Peter aber erst auf einem Geburtstag einer Schulfreundin kennenlernte. Über 50 Jahre waren die beiden glücklich verheiratet. Tischdecken vom Tiergarten existieren noch: Peters Eltern, Hermann und Elli Eggers, wohnten ebenfalls im Tiergarten. „Elli war eine ganz tüchtige Geschäftsfrau“, erzählt Margot Eggers. „Wenn sie mit den Lieferanten verhandelte, hat sie den Preis gemacht.“ Samstagsabends habe die Kapelle Wendt gespielt, sonntags wären dann die Familien beim Spaziergang eingekehrt, um ein Stück Torte zu essen und die Tiere zu beobachten. „Mein Mann sollte das Restaurant und den Kaffeegarten dann übernehmen, aber der Schuldenberg wuchs, und daher haben wir uns dagegen entschieden“, berichtet Margot Eggers, die noch Tischdecken aus dem Tiergarten hat. Neben einer Speise- und Getränkekarte hat sie auch noch viele Fotos. Auf einem ist zum Beispiel Mailchen zu sehen, der kleine Affe des Tiergartens.