Die Aufzeichnungen des Celler Oberbürgermeisters Wilhelm Denicke zu dem Geschehen im Reichsgebiet wie insbesondere auch zu den Verhältnissen in seiner Heimatstadt Celle im weiteren Verlauf des Jahres 1919 lassen erkennen, mit welchen schwerwiegenden Konflikten und Belastungen die politisch Verantwortlichen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit konfrontiert wurden.
Herausforderungen auch in Celle
Da waren zum einen die vielen Opfer zu beklagen, die der Krieg verursacht hatte. Von 5102 Celler Bürgern, die in der Zeit von 1914 bis 1918 beim Militär waren, waren 907 gefallen.1
Darüber hinaus hatte der Krieg 690 Schwerbeschädigte, 200 Witwen, 476 Halbwaisen, 63 Vollwaisen sowie etwa 120 „Kriegseltern“ und Altenrentner hinterlassen, die der wirtschaftlichen und sozialen Hilfe durch öffentliche Einrichtungen bedurften.2
Zudem blieb die Ernährungslage der Bevölkerung auch in Celle ein großes Problem, das sich durch die mit den Folgen des Krieges für Deutschland verbundenen Belastungen noch verschärfte. Zwar waren seit 1914 die Nominallöhne deutlich gestiegen. Damit war jedoch keine Steigerung der Kaufkraft der Bevölkerung verbunden, da sich durch einen fortschreitenden Währungsverfall die Lebensmittelpreise in dieser Zeit noch stärker erhöht hatten.
Diese Entwicklung hat Wilhelm Denicke wiederholt in seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1919 beklagt: „[…] Auch hört man viel vom Beginn der Lebensmittelzufuhr aus den feindlichen u. neutralen Staaten, aber gewahr wird man noch nichts davon. In diese höchst unerfreulichen Zustände hinein ertönen jedoch gelegentlich hohe Worte, wie z. b. die des §. 1 des Sozialisierungsgesetzes vom 23 März: […] Ja, wenn es mit solch schönen Sätzen gemacht wäre. Aber vergeblich appelliert die Reichsregierung an die sittlichen Pflichten u. den guten Willen der Streikenden im Ruhrgebiet […]. Immer höhere Löhne: das wird zum Feldgeschrei der Revolution: Alle die anderen Errungenschaften der letzten Monate politischer u. sozialer Art werden offenbar nur gering bewertet. Gerade heute wird auf dem Rathause […] über die neuesten Ansprüche der städtischen Arbeiter verhandelt, die sich auf c. 200000 M jährlich belaufen werden. Und nachdem erst kürzlich schwierige Verhandlungen mit den städt. Angestellten beendet waren, die ihnen, unter Verzicht auf weitergehende Gehaltsansprüche, Pensionsberechtigung usw. brachten, traten sie jetzt doch schon wieder, mit Berufung auf die Arbeiter, auch ihrerseits mit Lohnforderungen hervor. Naturgemäß werden die Beamten nachfolgen: es ist eine Schraube ohne Ende, u. niemand fragt, ob die Stadt das alles leisten kann, u. wie sie es aufbringen soll. Dabei verlangen die soz. demokr. Bürgervorsteher noch ferner Bereitstellung außerordentlicher Mittel für Säuglingsschutz, Tuberkulosenfürsorge, Waldschulen usw. – lauter sehr gute Sachen, aber gegenwärtig nicht, oder nur mit vier- u. fünffachen Kosten ausführbar. Zugleich kommt der Staat, der sich ebenfalls in äußerster Geldnot befindet, mit Vermögensabgaben, Kapitalrentensteuer (10%) u. enormen Zuschlägen zur Einkommen- u. Ergänzungssteuer, u. das Reich wird nicht dahinter zurückbleiben, namentlich wenn erst feststeht, welche jährlichen Abgaben an Kriegsentschädigung die Feinde uns auferlegen […]. Es kommt schließlich darauf hinaus, daß wir alle verarmen u. dann die Lasten überhaupt nicht mehr tragen können […].“3
Schwierige Ernährungslage
Eine Übersicht zu den Vor- und Nachkriegspreisen für verschiedene Lebensmittel vom 1. November 1919 zeigt die drastischen Unterschiede in der Preisgestaltung im Vergleich von 1914 mit 1919. So stieg in diesem Zeitraum zum Beispiel der Preis für das Kilo Wurst von 1 M auf 6 M, für Roggenbrot von 0,32 M auf 0.80 M, für Reis von 0,40 M auf 10,50 M, für gebrannten Kaffee von 3 M auf 26 M, für Rindfleisch von 1,60 M auf 5,20 M, für Schweinefleisch von 1,30 M auf 6,40 M, für Speck von 1,80 M auf 7,50 M, für Butter von 2,20 M auf 10 M, für Kartoffeln (100 kg) von 5,50 M auf 20 M, für Eier (Stück) von etwa 0,8 auf 1 M, für Milch (Liter) von 0,14 M auf 0,60 M, für Steinkohlen (Zentner) von 1,45 M auf 8,35 M.4
Diese Beispiele vermitteln einen Eindruck von der schwierigen Ernährungslage, in der man sich auch nach dem Ende des Krieges trotz der Aufhebung der Seeblockade durch die Alliierten im August 1919 in Deutschland befand, und sie verweisen auf Herausforderungen für die kommunalen Verwaltungen, deren Bewältigung kurzfristig nicht möglich war.
Ein großes Problem stellte in Celle für die Behörden auch die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum dar. Diese Mangelerscheinung hatte bereits im letzten Kriegsjahr angesichts drastischer Mietpreiserhöhungen durch die Hausbesitzer Unmut und Proteste hervorgerufen. So wird in einem vom Gewerkschaftskartell Celle an den Magistrat der Stadt gerichteten Schreiben vom 15. Mai 1918 beklagt, der Wohnungsmangel habe in Celle „Zustände geschaffen, die weiten Kreisen der Hausbesitzer und der Mieter geradezu unerträglich geworden sind“. Ein Abbau „der Gegensätze und Unzuträglichkeiten sowie ein Austrag der Streitigkeiten“ könne nur durch die Einrichtung eines Mieteinigungsamtes erzielt werden.5
Diese Situation spitzte sich noch zu, als durch weitere Zuzüge, vor allem bedingt durch die zahlreichen jungen Ehepaare in Verbindung mit der Rückkehr der Soldaten, die Nachfrage nach angemessenem Wohnraum deutlich stieg 6 und die Stadt sich zu erheblichen Einwirkungen auf den Wohnungsmarkt gezwungen sah. Im Juni 1918 wurde deshalb zunächst zur Behandlung von Streitigkeiten zwischen Hausbesitzern und Mietern ein Mieteinigungsamt errichtet.7 Das Problem des Wohnungsmangels konnte auf diese Weise jedoch nicht gelöst werden. Es folgten weitergehende behördliche Eingriffe. Dazu zählte auch die Beschlagnahme leerstehender Wohnräume.8
Im Hinblick darauf hatte der kommandierende General des X. Armeekorps am 19. September 1918 eine „Verordnung betr. Beschlagnahme unbenutzter Wohnungen“ und eine „Verordnung zur Milderung der Wohnungsnot“ erlassen.9
Zu den von der Stadt in dieser Situation durchgeführten Maßnahmen heißt es im Fünften Verwaltungsbericht: „Bis Mitte 1919 ruhte der Wohnungsneubau fast ganz. Um die Anzahl der Wohnungen zu vermehren, wurden in alten Häusern, wo es irgend möglich war, neue Wohnungen eingebaut, häufig auch in beschlagnahmten Wohnungen auf Kosten der Stadt. Im Januar 1919 wurden im Schlosse 28 Wohnungen eingerichtet; deren Räumung später, als im Schlosse Reichs- und Staatsbehörden, besonders das Finanzamt, untergebracht werden mußten, sich außerordentlich schwierig gestaltete, weil andere Wohnungen schwer aufzutreiben waren. […] Ein Teil der Burgkaserne der Firma S. Reinhold in Hannover gehörend, wurde auf Rechnung der Stadt zu Wohnungen (38) eingerichtet, in denen die meisten Familien untergebracht werden konnten, welche ihre Wohnung im Schlosse räumen mußten. Selbst Stiftungen gaben verfügbar zu machende Räume her. […] Im Bezirkskommando-Dienstgebäude richtete die Stadt 9 Wohnungen ein, nachdem sie das Gebäude nach Überwindung vieler Hindernisse von der Militärverwaltung zurückbekommen hatte.
Erst im Sommer 1919 setzte der Wohnungsbau nach und nach ein, den die Stadt durch Hergabe geeigneten Baugeländes zu möglichst niedrigen Preisen zu fördern suchte.“10
Trotz dieser Maßnahmen blieb aber auch in der Folgezeit die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt bestehen.11
Einen Eindruck von den unzumutbaren und in hohem Maße gesundheitsgefährdenden Lebensbedingungen der im Schloss untergebrachten Familien vermittelt ein Bericht des Kreisarztes Medizinalrat Dr. Amadeus Sorge an den Magistrat vom 28. Januar 1922, der aufgrund wiederholter Besuche „eine baldige Änderung“ der Verhältnisse für dringend notwendig erachtet und dabei auf die Unmöglichkeit verweist, „in den dort untergebrachten Familien einmal festgesetzte Krankheitskeime und Schmutzkrankheiten zu bekämpfen, da eine genügende Instandsetzung der Wohnungen, wenn nicht überhaupt unmöglich, so doch nur unter ganz erheblichem Kostenaufwand zu erreichen ist“.
Zu den Wohn- und Lebensbedingungen erläutert der Kreisarzt Dr. Sorge: „So lange die Leute ihr Wasser über den Hof u. 6 Treppen hoch tragen müssen und umgekehrt der Abort erst durch den Abstieg über alle Treppen und Gänge ins Freie (in der Nacht im Dunkeln) erreicht werden kann, kann Sauberkeit nicht erwartet werden. Dazu kommt, daß der Zustand der Wohnungen selbst jeder Beschreibung spottet. Die Abgrenzung der Wohn- und Schlafräume erfolgt größtenteils, wenn überhaupt, durch Bretter, die nur halbe Höhe der Zimmerwände haben. Um einigermaßen eine Abgrenzung und Erwärmung zu erreichen, haben die Leute den oberen Freiraum durch von der Decke herabhängendes Papier und durch Decken notdürftig und ungenügend abgeschlossen. Die Fenster sind vielfach zerbrochen, mit Holz oder Lappen vernagelt oder verklebt. […] Der Zustand der Waschküche im Parterre, in der sämmtliche [!] Bewohner ihr Wasser holen müssen, ist von mir wiederholt ekelerregend, vor Schmutz starrend gefunden. Die Umgebung der Abortanlagen und des Grabens ist überhaupt nicht zu begehen. Daß in solchen Räumen sich das Ungeziefer einnistet und durch einfache Maßnahmen gar nicht wieder zu vertreiben ist, wird einleuchten. […]“ 12
Wenig Hoffnung auf Problembewältigung
Für den Celler Oberbürgermeister Denicke konnten die im Verlauf des Jahres 1919 beobachteten schlimmen Zustände nichts Gutes für Deutschlands Zukunft verheißen: „Ich wurde 67 Jahre alt. Was habe ich in dieser Spanne Zeit alles erlebt! Den machtvollen Aufstieg, den jähen Niedergang Deutschlands, verbunden mit den gewaltigsten Ereignissen, welche die Weltgeschichte seither kannte. Und noch ist garnicht abzusehen, welchen Gang die weitere Entwicklung nehmen wird, denn am Ende sind wir noch längst nicht angekommen. […] Schlechte Lebensmittelversorgung, unerträgliche Teuerung auf allen Gebieten, Kohlennot, Darniederliegen der Industrie aus Mangel an Kohlen, Rohstoffen u. infolge der noch immer steigenden Löhne, Anwachsen der Zahl der Erwerbslosen, die in Berlin z. b. schon über 100000 betragen, andauernd miserabele Markwährung (z. Zt. Tiefstand mit 22 M [für einen US-Dollar]) – das alles soll die kommende Umwälzung teils mit herbeiführen, teils befördern. Dabei lastet noch immer nicht der eigentliche Druck des Friedensvertrages auf uns, weil seine Ausführung erst bevorsteht.“ 13
Resignierend stellte Denicke angesichts dieser Bedingungen im Herbst 1919 fest: „Es ist mir eine förmliche Überwindung, diese Aufzeichnungen noch fortzusetzen, wo so gar kein Lichtblick das Dunkel erhellt, in dem wir leben.[…]“ 14