Niedersachsen feierte am 1. November mit einer großen Gala in der Hannoverschen Stadthalle seinen 75. Geburtstag. Dass es am 1. November 1946 das Land noch gar nicht gab, sondern erst die Verordnung der britischen Militärregierung vom 23. November 1946 Niedersachen rückwirkend gründete, fällt unter den Tisch. Das Augenmerk der heute Feiernden richtet sich nicht mehr auf den eigentlichen Gründungsvorgang, sondern auf Beispieldaten aus 75 Jahren, die heute als prägend definiert werden. Das kann man so machen und trifft sicher auch den Zeitgeist. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Bedeutung die Menschen im Raum Celle 1946 der Gründung des Landes zuwiesen, und wird zeigen, dass eine historische Herangehensweise an das Jubiläum uns Heutigen hilft, Gegenwärtiges besser zu verstehen.
„Wir waren immer Niedersachsen“
Die beiden hellwachen Wathlingerinnen Meta Oelker und Gerda Duhr blicken auf mehr als 90 Lebensjahre zurück. Kaffee und Dänische Butterkekse stehen auf dem Sofatisch in der kleinen gemütlichen Wohnstube, und beide erzählen detailreich und genau vom schweren Alltag der Bauern, von versperrten Bildungswegen für Mädchen, von großen und kleinen Tragödien des Dorfes, aber auch von den heiteren Episoden im Dorfleben. Als das Thema auf die Gründung des Landes Niedersachen zu sprechen kommt, antworten beide kopfschüttelnd: „Nee, das ging an uns total vorbei.“ Beide fügen aber sofort hinzu: „Wir waren immer Niedersachsen“, und verschmitzt lächelnd fügen sie an: „Das Niedersachsenlied, das haben wir schon immer gerne gesungen.“ Und dann ernster erinnert sich Gerda Duhr: „Die Nazis, die haben das Thema Niedersachen ja runterdrücken wollen, aber es war immer da, und nach dem Krieg kam es dann wieder hoch.“
Niedersachsen-Leidenschaft hat lange Tradition
Mit diesem Niedersachsenbewusstsein sind die beiden Wathlingerinnen im Landkreis nicht allein, denn die Niedersachsen-Leidenschaft hat in der ehemaligen preußischen Provinz Hannover eine lange Tradition. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Jugend von der Heimatbewegung ergriffen und das Land Niedersachsen „erfunden“, denn es kann sich auf keine historische Tradition staatlicher Einheit wie etwa Sachsen oder Bayern berufen.
Hermann Grote dichtet Niedersachsenlied
Die „symbolische Konstruktion“ eines Landes Niedersachsen hatte damals etwas Revolutionäres, denn die jahrhundertelang geltende dynastisch legitimierte Klein- und Kleinststaatlichkeit Hannovers, Oldenburgs, Braunschweigs und Schaumburg-Lippes war plötzlich infrage gestellt. Die plötzlich in den Vordergrund gerückten Gemeinsamkeiten in Geschichte, Kultur und Volkstum waren sehr weit hergeholt, manchmal sogar falsch, was der Idee aber keinen Abbruch tat. Wie ein Booster für die Niedersachsenidee wirkte es, als nach der Niederlage gegen Preußen das Königreich Hannover 1866 zur „Provinz Hannover“ herabsank. 1895 erschien eine neue Zeitschrift mit dem Titel „Niedersachsen“ immerhin in einer Auflagenhöhe von 4000 Exemplaren. 1901 betrat mit dem in Hannover gegründeten „Heimatbund Niedersachsen“ ein neuer Akteur das geschichtskulturelle Feld, 1902 wurden die jährlichen Niedersachsentage ins Leben gerufen, und die Schüler lernten in der Volksschule mit einer Fibel lesen und schreiben, die den Namen „Niedersachsen“ im Titel trug.