Im Verlauf der ersten Nachkriegsphase konnte trotz vielfältiger Bemühungen deutscher Politiker um eine engagierte Mitwirkung der Bürger an den politischen Prozessen ein durchgreifender, zielstrebiger politischer Aufbruch nicht realisiert worden. Insbesondere die weiterhin bestehende Versorgungskrise hatte in der Bevölkerung viel Unmut und Kritik an den politischen Entscheidungsträgern ausgelöst. Diese Erfahrungen verstärkten bei vielen Menschen die Vorbehalte gegenüber einer aktiven Teilnahme an der Gestaltung der staatlichen Ordnung und waren nicht geeignet, in der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber den neuen politischen Institutionen und deren Vertretern in Deutschland zu beseitigen und eine positive Einschätzung in Bezug auf die Neuordnung zu erreichen.
Erste freie demokratische Wahlen zum Niedersächsischen Landtag
Die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen von Hunger, Wohnungsnot und mangelnder wirtschaftlicher Effizienz blieben auch weiterhin ein bedeutsamer Einflussfaktor bei der Gestaltung der politischen Prozesse. Wichtige Erkenntnisse in Bezug auf diese Zusammenhänge vermittelten auch die ersten freien demokratischen Wahlen zum Niedersächsischen Landtag am 20. April 1947.
Geringe Beteiligung an „Hungerwahlen“
Das Ergebnis dieser Abstimmung zeigte ein zwiespältiges Verhalten bei der Wählerschaft. Mit der Feststellung, dass die „Parteilosen“ bei dieser Wahl zur stärksten Partei wurden, sollte auf die enttäuschend schwache Wahlbeteiligung von rund 65 Prozent verwiesen werden. Zudem wurde vermutet, dass viele Bürger nicht aus demokratischer Überzeugung und politischer Verantwortung von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht hätten, sondern lediglich aus einer opportunistischen Haltung heraus, um nicht in ein „schiefes Licht“ zu geraten. In der Presse war in diesem Zusammenhang auch von „Hungerwahlen“ die Rede, um damit deutlich zu machen, dass die wirtschaftliche Notlage viele Bürger davon abgehalten hatte, zur Wahl zu gehen. Angesichts der unzureichenden politischen Erfolge der Parteien bei der Durchsetzung elementarer Bedürfnisse und Interessen der deutschen Bevölkerung hielten diese Wähler die Stimmabgabe für wirkungslos.1
Landesparlament in Niedersachsen nur mit eingeschränkten Rechten
In diesem Zusammenhang muss auch die Tatsache einer weiterhin bestehenden deutlich eingeschränkten Eigenständigkeit der obersten staatlichen Institutionen des Landes bedacht werden. Mit der Bildung dieses Landesparlamentes waren zwar Politikern hierzulande wieder gesetzgeberische Kompetenzen übertragen worden; aufgrund der Verordnung Nr. 57 der britischen Militärregierung vom 1. Dezember 1946 handelte es sich dabei jedoch nur um sehr begrenzte Zuständigkeiten. Die Gesetzgebungsbereiche „Einkommens- und Gewinnsteuer“, „Leitung der Grundindustrien“ und „Verteilung von Mangelwaren“ waren dem Zugriff des Parlaments völlig entzogen. Aber auch die in den Zuständigkeitsbereich des Niedersächsischen Landtags fallenden Gesetze unterlagen weiterhin der Genehmigungspflicht durch die britische Militärregierung. Erst danach konnten sie in Kraft treten.
Wie werden wir im kommenden Winter heizen?
Abgeordnete des Niedersächsischen Landtags reagierten angesichts dieser Problematik enttäuscht. So stellte der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU, Adolf Cillien, am 14. Mai 1947, also einen Tag nach Eröffnung des ersten frei gewählten Parlaments, fest: „Unser Volk interessiert die Verfassung keinen Deut, ebenso wenig wie die vielen gesetzgeberischen Maßnahmen, mit denen wir uns abquälen. Unser Volk interessieren die ganz primitiven Fragen. Wie werden wir im kommenden Winter heizen? Ich persönlich muß sagen, ich habe nicht den Mut dazu, noch einmal an dem parlamentarischen Göpel mitzudrehen, wenn ich nicht die Hoffnung haben kann, daß auch etwas Mehl dabei herauskommt und nicht nur Papier.“2
Hunger geht einher mit Resignation
Weitere Anhaltspunkte und Erkenntnisse über die politischen Einstellungen der Menschen im Nachkriegsdeutschland lassen sich aus den Berichten von Landräten über die politische Stimmungslage der Bevölkerung oder aus Meinungsumfragen der Besatzungsmächte, vor allem in der amerikanischen Zone, erschließen. Trotz mancher Vorbehalte in Bezug auf die verallgemeinerbare Aussagekraft dieser Ergebnisse ist bei diesen Ermittlungen der enge Zusammenhang zwischen einer dauerhaften Verbesserung der Lebensbedingungen und der Befürwortung rechtsstaatlicher Prinzipien und einer demokratisch legitimierten Herrschaftsausübung nicht zu übersehen.
Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Jahren 1946 und 1947
Hunger und andere ungelöste Versorgungsprobleme gingen einher mit Resignation und einer ablehnenden politischen Haltung gegenüber den von der Besatzungsmacht eingeleiteten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Vielfach waren es die an einem zügigen Wiederaufbau des Landes besonders Interessierten, die sich angesichts der ökonomischen Lähmung und der Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Jahren 1946 und 1947 enttäuscht von der Politik abwandten und dabei vor allem auch durch das aus ihrer Sicht wenig förderliche Verhalten der Alliierten entmutigt sahen.
Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwindet
Diese Beobachtungen und die bisherigen Erfahrungen ließen bei vielen Bürgern die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und erfolgreiche politische Umgestaltung in Deutschland schwinden. Vorrangige Bedeutung für das Denken und Handeln der Menschen hatten die Bewältigung der täglichen Ernährungsprobleme und die persönliche Sicherheit.3
Immer noch Zustimmung zum Nationalsozialismus
Von besonderem Interesse war im Zusammenhang mit der Nachkriegsentwicklung auch die Frage nach der Einstellung der Menschen zum Nationalsozialismus. Eine Untersuchung ergab in Bezug auf das politische Meinungsbild in Niedersachsen eine hohe Zahl zustimmender Antworten auf die Frage, ob der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen sei, die nur schlecht umgesetzt wurde. Diese bereits in den Jahren 1946 und 1947 weit verbreitete Bewertung der nationalsozialistischen Ideologie verstärkte sich 1947 noch einmal signifikant und verharrte danach auf hohem Niveau.
Auch diese Ermittlungen müssen im Zusammenhang mit der schlechten wirtschaftlichen Lage in Deutschland gesehen werden. Diese Einstellungen, Einflüsse und Erfahrungen vermittelten zugleich auch einen Eindruck von der Stimmungslage in der Familie und lassen sich in der kleinsten sozialen Einheit teilweise noch deutlicher beobachten. Unabhängig von den Vorbehalten in Bezug auf den exakten Wert dieser Zahlen „sind sie doch aussagekräftig genug, um zu verdeutlichen, mit welchen Problemen […] nicht nur die Politik der Alliierten, sondern auch politisch aktive Kräfte in Deutschland konfrontiert waren“.4
Hoffnung auf humane Gesellschaft
Es wäre jedoch verfehlt, aus diesen Ermittlungen vorschnell zu folgern, dass wir es hier mit einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber der demokratischen Neuordnung Deutschlands zu tun haben, die verbunden ist mit der strikten Weigerung, sich kritisch mit der Herrschaft des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.