Hofprediger von Eléonore Desmier d’Olbreuse wurde zum „Päpstlein“

Seine Eltern waren der reformierte Pfarrer François I. Jodouin († 1756) und Jeanne du Maitre († 1733). Bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) war der Vater reformierter Pfarrer in Senlis/Île-de-France. Die Kleinstadt liegt im Norden von Frankreich am Fluss Nonette, rund 50 Kilometer von Paris entfernt. Als der Vater aus dem reformierten Pfarramt in Senlis vertrieben wurde, flüchtete er im Alter von 28 Jahren in die Stadt Groningen. Als Teil der Republik der Vereinigten Niederlande war der Ort durch den reformierten Protestantismus (Calvinismus) geprägt. Dort wurde er Pastor der 1619 gegründeten „Waals Hervormde Gemeente“ an der „Franse kerk“. François I. Jodouin starb 1756 in Groningen im biblischen Alter von 98 Jahren. Vier Kinder gingen aus der laut Henri Tollin dritten Ehe des Theologen hervor. Anders als von diesem und Wilhelm Beuleke vermutet, erblickte der Sohn François II. Jodouin jedoch nicht in Senlis, sondern erst in Groningen das Licht der Welt. Er war 1706 der erste „Franse“ Student, der in Groningen geboren wurde („Groningae natus“). Auch die Behauptung Tollins, dass er eine andere Mutter als die zuvor genannte habe, steht auf schwankendem Boden. Denn in einem Eintrag im 2. Kirchenbuch der Französisch-reformierten Gemeinde in Celle wird Jeanne du Maitre zweifelsfrei als Mutter von François II. Jodouin bezeichnet. Auch sein Bruder Charles Jodouin studierte in Groningen Theologie. Bei ihm wird in den Unterlagen der Groninger Akademie vermerkt, dass er aus einer französischen Familie stammt, jedoch in Holland geboren wurde. Die Tochter namens Johanna (Jeanne, Jane) heiratete den aus Paris stammenden hugenottischen Rechtsgelehrten Pierre de Toullieu († 1735). Hofprediger in Lüneburg: Über den Werdegang von François II. Jodouin nach seinem Theologiestudium ist nur bekannt, dass er 1712 Hilfsprediger (Proposant) wurde. Mit Zustimmung der „Synode von Zutphen“ wurde er 1717 im „Witthumbs-Sitz“ Lüneburg Hofprediger und Seelsorger der verwitweten Herzogin Eléonore Desmier d’Olbreuse. Deren Mann Georg Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg (* 1624; † 1705), hatte das dortige Stadtschloss eigens für diesen Zweck von 1696 bis 1698 erbauen lassen. Während ihres Lüneburger Aufenthalts von 1706 bis 1717 erlebte die dortige – bereits 1685 gegründete – kleine Französisch-reformierte Gemeinde ihre letzte Blütezeit. Die Hugenotten und weitere Reformierte feierten ihre Gottesdienste im großen Saal des Stadtschlosses. Die Herzoginwitwe war „mit den Predigten und Betragen Jodouin’s so sehr zufrieden, daß er doch zeitlebens in ihrer Nähe bleiben müsse“. „Den 5. Februar 1722 halb elf Uhr vormittags nahm Gott der Herr Ihre Hochfürstliche Durchlaucht die verwitwete Frau Herzogin von Celle zu sich; sie hat ihr Leben in höchst christlicher Weise im 85. Lebensjahr beschlossen“, trug ihr Seelsorger François Jodouin in das Kirchenbuch der Französisch-reformierten Kirchengemeinde Celle ein. Entsprechend dem Testament Eléonores erhielt die Celler Kirchengemeinde 3000 Taler, verbunden mit dem Wunsch, dass Jodouin nach ihrem Tod als Pastor an der Französisch-reformierten Gemeinde in Celle wirkt „und diese Rente genieße“. Pfarrstelle in Celle: Der Theologe zog von Lüneburg nach Celle um und bekleidete entsprechend dem Testament der Herzogin bis 1728 die 2. Pfarrstelle und von 1728 bis ca. 1750 die 1. Pfarrstelle der Französisch-reformierten Kirchengemeinde Celle. Am 5. Februar 1722 war François II. Jodouin zunächst gleichberechtigt als Prediger an die Seite von Daniel de Chaufepié getreten. Henri Tollin berichtet: „Vom 5. October 1722 und dann oft fungiert Jodouin als Modérateur, immer abwechselnd mit seinem Kollegen. Vom 7. März 1723 an übernimmt er viele Taufen. Die Trauungen aber verrichtet seit 28. November 1723 bald Jodouin, bald Chaufepié und der andere protokolliert dann die heilige Handlung. Zur Synode werden bald beide Pastoren deputiert […]. Zur Kirchenkasse waren drei Schlüssel, von denen den einen stets ein Ancien führte, die andern je einer der Pastoren.“ Der deutschen Sprache nicht mächtig: François II. Jodouin heiratete am 27. August 1730 Marie Barbaud, die Tochter des bereits verstorbenen Lüneburger Sprachlehrers an der Ritterakademie („Professeur au cloître de St. Michel“) Daniel Barbaud. Sie war zuvor Hofbedienstete der auf Schloss Ahlden inhaftierten Tochter von Eléonore Desmier d’Olbreuse, der Prinzessin Sophie Dorothea („Prinzessin von Ahlden“). Nach dem Tod von Marie Barbaud († 24. März 1743) heiratete François II. Jodouin in zweiter Ehe in der Oberneustadt von Kassel am 10. Juni 1744 die zur dortigen französischen Gemeinde gehörende Anne Cathérine de Vaux, die Tochter des wallonischen Pastors zu Harlem Simon de Vaux. Offensichtlich hatte der Celler Theologe, der übrigens der deutschen Sprache nicht mächtig war, gute Beziehungen nach Kassel, wo in der Oberneustadt zahlreiche Hugenotten und deren Nachkommen leben. So traute er in Celle Jeanne Marguérite de Rochemont, die Tochter des Kasseler Hofpredigers Philippe de Rochemont, mit dem Londoner Hugenottenprediger Theophile Louis Barbaud, einem Verwandten seiner Frau. Befreundet war er mit dem Kasseler Prediger Wolfgang du Moulin. Henri Tollin urteilt sogar: „Zuletzt ist ihm Cassel mehr Heimath wie Celle“. Streitbarer Geist ohne Teamfähigkeit: In Celle wohnte François Jodouin („Monsieur Schaudewein“) in dem 1678 errichteten Haus Hannoversche Straße Nr. 59 (heute Gemeindehaus der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Celle). Das Gebäude kam 1699 in Gemeindebesitz und diente als erstes Pfarrhaus. Dort kam auch im „presbytère“ das „consistoire“ (das mehrheitlich aus Laien bestehende Leitungsgremium der Hugenottengemeinde) zu seinen Sitzungen zusammen. Als Gehalt kam ihm allein der Zinsertrag des von der Herzogin vermachten Kapitals von 6000 Talern zu. Sein Kollege Daniel de Chaufepié sollte freie Wohnung haben und seitens der Kirchengemeinde sein Gehalt erhalten. Jodouin war ein streitbarer Geist, denn er überwarf sich bald mit seinem Pfarrkollegen Daniel de Chaufepié und den Anciens der Französisch-reformierten Gemeinde. Teamfähigkeit war nicht seine Stärke. Immer wieder brachen neue Streitigkeiten aus, die schließlich vor die Synode der Niedersächsischen Konföderation gebracht wurden. So widersetzte sich Jodouin beispielsweise der Auszahlung des Pastorengehalts an seinen Kollegen. Die Synode rügte ihn und forderte, dass sich beide Pastoren vertragen sollten. Jodouin wurde auch aufgefordert, sich mehr anzustrengen und wenigstens an den hohen Festtagen zu predigen. Nach der Rückkehr von der Synode sollten beide Pastoren Friedenspredigten halten und ihre Predigten der nächsten Synode vorzeigen. Sollte einer der beiden den Frieden brechen, so würde auf Kosten der Friedensstörer eine synodale Kommission zusammentreten, die das Recht auf Absetzung habe. Henri Tollin stellte fest: „Die synodale Friedensstiftung bewies ihre segensreiche Kraft. Das Feuer der Zwietracht war verglommen.“ Erneut bricht Unfrieden aus: Und doch brach erneut ausgehend von Jodouin Unfrieden aus, diesmal gegen den neu gewählten zweiten Pastor Salomo Sylvestre und alle Kirchenältesten. Jodouin, der kein einfacher Zeitgenosse war, war laut Henri Tollin „am Hofe ein Päpstlein geworden“. 1750 konnte die Gemeinde bereits auf einen unseligen 20-jährigen Unfrieden zwischen Jodouin auf der einen und Pastor Sylvestre und dem Consistoire auf der anderen Seite zurückblicken. Mehrmals hatte Jodouin gegen die Discipline (Kirchenordnung) und die Synodal-Règlements der „Niedersächsischen Konföderation“ verstoßen. Der streitbare Kollege erklärte sogar die von ihm selbst mitunterzeichnete Berufungsurkunde Sylvestres für rechtsungültig. Dieses Verhalten führte zur Isolierung des einstigen Hofpredigers in der Kirchengemeinde. „Geradezu unmöglich geworden“, bittet er um einen einjährigen Urlaub. Da der Theologe jedoch weder seine Fehler eingestehen wollte, noch die Bereitschaft erkennen ließ, einen Hilfsprediger zu bezahlen, verweigerte ihm das Consistoire den Urlaub. Trotzdem verließ François II. Jodouin Anfang 1750 ohne Erlaubnis Celle, um seinen alten in Groningen lebenden Vater zu besuchen. Die übergangene Gemeinde hielt ihn offensichtlich nicht mehr für ihren Pastor. In den Dokumenten ist von dem „nach Holland gezogenen Pastor Jodouin“ (Schreiben vom 13. April 1750) oder auch vom „geflüchteten Prediger Jodouin“ (Schreiben vom 17. April 1750) die Rede. Schließlich wurde die ganze Angelegenheit von der „Niedersächsischen Konföderation“ verhandelt. Zu einem abschließenden Ergebnis kam es jedoch nicht, da François II. Jodouin Anfang Juni 1750 in Kassel verstarb. Beigesetzt wurde er am 12. Juni 1750 in Celle. Seine Frau („la veuve Jodouin“) lebte fortan in Kassel, wo sie am 23. Februar 1762 im Alter von 67 Jahren verstorben ist. Im selben Jahr rückte Salomo Sylvestre zum ersten Prediger der Gemeinde auf. Als Unterstützung stand ihm für sieben Monate ein Hilfspastor namens Sporon zur Seite. 1751 wurde Pastor Simon Bertrand auf die zweite Pfarrstelle gewählt, der jedoch bereits 1755 verstarb. Von Andreas Flick M. A. W. BAKKER u.a.: Hugenoten in Groningen: Franse vluchtelingen tussen 1680 en 1720, Groningen 1985. Wilhelm BEULEKE: Hugenotten in Niedersachsen (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 58), Hildesheim 1960. Hugo DREUSICKE: Die französischen Gemeinden in Kassel 1687-1867 (= Deutsche Ortssippenbücher, Bd. 27), Frankfurt am Main 1962. Andreas FLICK: Hugenotten am Hof der „Prinzessin von Ahlden“, in: Andreas Flick/ Walter Schulz (Hg.): Von Schweden bis Südafrika (= Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft, Bd. 43), Bad Karlshafen 2008. Andreas FLICK: Blick auf die letzten Lebensjahre der letzten Celler Herzogin, in: Cellesche Zeitung (Sachsenspiegel) 14.6.2013 (https://www.cz.de/Mehr/Sachsenspiegel/Blick-auf-die-letzten-Lebensjahre-der-letzten-Celler-Herzogin-Schlichte-Beisetzungszeremonie-in-Stadtkirchen-Gruft - 4.2.2021). Andreas FLICK/Sabine MAEHNERT/Eckart RÜSCH/Norbert STEINAU: Die Westceller Vorstadt. Celles barocke Stadterweiterung. Geschichte und Bauten (= Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs und des Bomann-Museums, Bd. 40), Celle 2010.: Registre des noms de tous les pasteurs des églises Wallonnes des Provinces Unies du Pais-Bas, depuis la réformation jusques à 1733, Leyden 1733. Henri TOLLIN: Geschichte der hugenottischen Gemeinde von Celle (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins, Zehnt II, Heft 7 u. 8), Magdeburg 1893. Henri TOLLIN: Die hugenottenischen Pastoren von Lüneburg (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins Zehnt VIII, Heft 5), Magdeburg 1899. Ev.-ref. Gemeinde Celle, Best. 2, Nr. 129: 2. Kirchenbuch der Französisch-reformierten Gemeinde Celle, 1705-1810. Ev.-ref. Gemeinde Celle, Best. 2, Nr. 110: Untersuchung wegen Amtsführung des Pastors François Jodouin, (1729), 1750, 1751. Ev.-ref. Gemeinde Celle, Best. 3, Nr. 56: Kirchenbuch der Deutsch-reformierten Gemeinde, 1709-1937.: Genealogische Datenbank der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V., Personenblatt 258747 François Jodouin [Mein Dank gilt Herr Dierk Loyal für genealogische Hinweise zu diesem Text].