Forschung wird beeinflusst von den zeithistorischen Umständen, von der Gesellschaft. Umgekehrt kann Forschung auch die Gesellschaft beeinflussen, etwa indem sie politische Diskussionen auslöst.
Das Geschehen, um dessen Erforschung es hier geht, ist der Bombenangriff auf Celle im April 1945 und die Jagd auf fliehende KZ-Häftlinge danach. Knapp skizziert geschah dies: Als am 8. April 1945 der Celler Güterbahnhof bombardiert wurde, stand hier ein Zug mit etwa 3420 KZ-Häftlingen. Den Bomben fielen 200 bis 500 Gefangene und 122 Zivilisten aus Celle zum Opfer. Viele Häftlinge flüchteten in Richtung Neustädter Holz. Nach einer Besprechung von Vertretern von NSDAP, Wehrmacht, SS, Polizei und der Stadt begann eine Durchkämmaktion im Neustädter Holz. Soldaten, SS-Angehörige und Polizisten trieben Häftlinge zusammen, schossen auch auf sie. Es folgten Massaker – eines wurde von Celler Polizisten verübt, die auf Befehl eine Gruppe von 30 bis 40 Häftlingen erschossen. Bei Hetzjagden auf flüchtende Häftlinge mordeten auch Celler Zivilisten. Den Massakern und Hetzjagden fielen mindestens 170 KZ-Gefangene zum Opfer. Über 2000 Häftlinge wurden nach Bergen-Belsen getrieben. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde in einen Pferdestall in der Heidekaserne gesperrt. 100 bis 120 Gefangene blieben hier unversorgt unter katastrophalen Umständen, bis sie am 12. April befreit wurden.
„Dunkelstes Kapitel in Celler Geschichte“
Bis das „dunkelste Kapitel in der Geschichte“ Celles (so der Historiker Mijndert Bertram) in das kollektive Gedächtnis einging und bis die genauen Abläufe, die Beteiligten, die Opferzahlen und dergleichen umfassend erforscht wurden, sollte es sehr lange dauern.
Bereits kurz nach dem Krieg gab es ein juristisches Nachspiel. 14 Celler mussten sich ab Dezember 1947 im „Celle Massacre Trial“ vor einem Gericht der britischen Kontrollkommission verantworten. Vier Angeklagte wurden zu Haftstrafen verurteilt, drei zum Tode. Über den Prozess wurde detailliert in der Presse berichtet, die Überschriften sprechen Bände: „Das ist der zweite, den ich umgelegt habe“, „Das Blutbad vom 8. April“, „Greuel im Neustädter Holz“. Die Todesurteile wurden später in langjährige Haftstrafen umgewandelt. Allerdings musste keiner der Verurteilten die volle Strafe verbüßen, die letzte Entlassung erfolgte im Oktober 1952.
Ermittlungsbericht lag bereits 1947 vor
Dem Prozess gingen ausführliche Ermittlungen der britischen Militärpolizei voraus. Mit dem Ermittlungsbericht lag bereits 1947 so etwas wie eine erste Forschungsarbeit vor. Durch den Prozess waren viele Fakten in der Welt: Was am 8. April und den Folgetagen in Celle passierte, war bekannt – wurde aber ignoriert und verschwiegen. 1950 lieferte der ehemalige Stadtkommandant von Celle, Generalmajor Paul Tzschöckell, in der „Hannoverschen Presse“ eine verzerrte Darstellung der Ereignisse: Massaker kamen nicht vor, Hetzjagden wurden zu Feuergefechten mit bewaffneten Häftlingen. Der Bericht sollte nachhaltige Wirkung zeigen, denn spätere Forschungen griffen mangels anderer Quellen darauf zurück. Zunächst aber schwiegen sich die Celler Geschichtsbücher aus: Von den 1950-er bis in die 1970-er Jahre werden lediglich kurz der Bombenangriff und die Schäden an Bahnhof, Wohngebäuden und Gaswerk erwähnt. Dazu der Historiker Ralf Busch: „Man muss feststellen, dass 1976 eine Chronik Celles die nationalsozialistische Zeit nicht reflektierte.“
Zwei Veröffentlichungen aus den 1960er Jahren verdienen aber Erwähnung: Im sechsten Verwaltungsbericht der Stadt Celle von 1964 heißt es immerhin: „Tief bedauerlich aber war, daß eine größere Anzahl von Zivilpersonen und ungezählte Häftlinge eines verlegten, auf dem Transport befindlichen Konzentrationslagers bei diesem Angriff ums Leben kamen.“ In der Celleschen Zeitung war im April 1965 unter der Überschrift „Vor 20 Jahren – Celle erlebte das bittere Ende“ zu lesen: „Ein Zug mit Kzlern […] wurde in Mitleidenschaft gezogen, die Insassen retteten sich durch Flucht ins Neustädter Holz. Eine Kompanie des Volkssturms wurde beauftragt, sie zu erschießen, aber der vernünftig denkende Führer kehrte sich nicht an den Befehl, sondern ließ seine Männer einfach abrücken. So rettete er den Kzlern das Leben und bewahrte sich selbst vor einer schweren Bestrafung, die zweifellos gefolgt wäre.“ Mit diesem Artikel erreichte laut Reinhard Rohde die „lokale Erinnerungspolitik einen absoluten Tiefpunkt“, die Verbrechen vom 8. April seien „förmlich aus der Welt geschafft und durch eine Lügengeschichte ersetzt“. Denn nichts anderes ist die Geschichte vom „vernünftig denkenden Führer“ des Volkssturms.
Auseinandersetzung mit Nazi-Geschichte Celles
Im Umfeld eines neu entstandenen „alternativen Milieus“ begann in den 1980-er Jahren eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte Celles. Als 1982 das Buch „Hinter den Fassaden. Geschichten aus einer deutschen Stadt“ erschien, glich dies einem Paukenschlag. Besonders die Aufsätze, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigten, wurden von vielen als „Nestbeschmutzung“ empfunden. Wenn auch dem 8. April kein eigenständiger Beitrag gewidmet war, war das Thema doch so präsent, dass es in drei Texten Erwähnung fand. 1983 initiierten Gewerkschafter eine Gedenkveranstaltung auf dem Waldfriedhof, wo Opfer der Bomben und der Morde beigesetzt worden waren. Im selben Jahr gründete sich die DGB-Geschichtswerkstatt „Grabe, wo du stehst“, die „Geschichte von unten“ betreiben wollte. Zu diesem Arbeitskreis gehörte auch Wilhelm Sommer, der als 13-Jähriger Augenzeuge von Morden an KZ-Häftlingen geworden war. Schüler einer 9. Klasse der GHS Groß Hehlen interviewten Sommer und erschlossen so eine wirkmächtige Zeitzeugenaussage. Eine weitere wichtige Veröffentlichung in jenen Jahren war das „Celle-Lexikon“ von RWLE Möller, das ebenfalls für einigen Unmut sorgte – unter anderem, weil es die Namen von Celler NSDAP-Funktionären nannte. Auch die Namen der im „Massacre Trial“ Verurteilten finden sich hier. Begleitet waren die Bemühungen um Erforschung und Aufarbeitung immer von Bestrebungen und Forderungen, der Opfer im öffentlichen Raum zu gedenken. All dies führte dazu, dass, so Bertram, die „Tabuisierung durchbrochen“ war.
Schmale Quellenlage durch Zeugen ergänzt
Im April 1985 erschien erstmals ein ausführlicher Artikel in der Celleschen Zeitung, der zwar noch weitgehend der Darstellung Tzschöckells folgte, aber auch Zeitzeugen zu Wort kommen ließ. Im Juli des Jahres produzierte der NDR eine Fernsehdokumentation, in der überlebende Häftlinge und Celler Augenzeugen berichteten. Ende der 1980-er Jahre beschloss der Rat der Stadt Celle auf Initiative von Grünen und SPD, die Ereignisse historisch aufzuarbeiten. Öffentlich sollte an die Opfer mit einem Mahnmal gedacht werden. Zuvor wurde aber Mijndert Bertram beauftragt, das Geschehen zu recherchieren und zu dokumentieren. 1989 erschien „April 1945. Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der KZ-Häftlinge aus Drütte“. Auch für diesen kleinen Band spielt die Darstellung Tzschöckells noch eine Rolle. Die Quellenlage war damals sehr schmal, doch erweiterte Bertram sie durch Interviews mit Augenzeugen.
Was folgte, war die Ausschreibung eines Wettbewerbs für den Entwurf eines Mahnmals in den Trift-Anlagen und die Einweihung des Mahnmals 1992.
1995 wollte der Schriftsteller Peter Schneider für einen Artikel in der New York Times herausfinden, was deutsche Jugendliche über die „Sünden der Großväter“ wissen. Er befragte unter anderem Schüler in Celle und musste feststellen, dass kaum einer von ihnen wusste, was am 8. April 1945 passiert war.