UNTERLÜSS. Edith Lövy war 15 Jahre alt, als sie Mitte August 1944 in ein Frauenlager im Wald bei Unterlüß kam. Hier musste sie wie eine Sklavenarbeiterin schuften und Bäume fällen. Auch sei sie in einem Steinbruch und in einer Munitionsfabrik eingesetzt gewesen, wo sie von morgens früh um 6 Uhr bis abends 18 Uhr im Straßenbau arbeiten musste. „Mein Essen bestand aus Rübensuppe und einem Stück Brot. Zum Anziehen hatte ich eine baumwollenen Häftlingsbekleidung“, schrieb Edith Balas, wie sie seit ihrer Heirat heißt, Mitte es Monats in einem Brief an die Einwohner von Unterlüß.
Gerichtet ist das Schreiben an Bürgermeister Kurt Wilks, an Pastor Wilfried Manneke sowie an den Unterlüßer Historiker Peter Heine, der sich mit der Geschichte seiner Heimatgemeinde in den Jahren 1939 bis 1950 beschäftigte. Die deutsche Fassung des Briefs hatte Manfred Stern aus Halle auf den Weg gebracht. Er hat die unter dem Titel „Bird in Flight“ im Jahr 2011 erschienenen Memoiren von Edith Balas ins Deutsche übersetzt. Sie sind jetzt unter dem Titel „Vogel im Flug - Erinnerungen einer Überlebenden und Wissenschaftlerin“ im Projekte-Verlag Cornelius in Halle (Saale) erschienen. Balas ist heute Professorin für Kunstgeschichte an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh in den USA.
Edith Balas stammt aus Klausenburg im rumänischen Siebenbürgen. Von den während des Zweiten Weltkriegs verschleppten 15.000 Juden ihrer Heimatstadt hätten nur ganze drei Familien vollständig mit Vater, Mutter und Kind überlebt. „Meine Familie war eine von ihnen“, heißt es in dem Brief.
In einem zentralen Punkt scheint sich Balas zu irren, wenn sie schreibt, dass die SS am 3. oder 4. März 1944 vor den vorrückenden alliierten Streitkräften geflohen sei. Tatsächlich war der Krieg in Unterlüß erst am 13. April vorbei, als der Ort von britischen Truppen besetzt wurde. Am 4. April 1945 war Unterlüß bombardiert worden, in 13 Wellen flogen die amerikanischen Bomber ihre Angriffe auf das Rüstungsunternehmen Rheinmetall-Borsig. Das Ereignis habe den schwärzesten Tag der Geschichte des Ortes markiert, schrieb Jürgen Gedicke als damaliger Archivar der Gemeinde Unterlüß in seiner 2002 erschienenen Chronik.
Nach der Flucht der SS habe der zivile Koch, der zurückgeblieben war, den Insassen des Frauenlagers gesagt, dass sie frei seien. „Die Freude war unbeschreiblich; Wir hatten die fürchterliche Sklaverei überlebt! Unsere Freudenfeier war jedoch nur kurzlebig“, schreibt Balas. Schon am nächsten Morgen seien bewaffnete Zivilisten gekommen, hätte sie in Lastwagen gestoßen und in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gefahren, heißt es in dem Schreiben. Wie durch ein Wunder überlebte Balas Bergen-Belsen, abgemagert war sie auf 28 Kilogramm.
Rückblickend sagte Balas, sie sei nicht verbittet wegen dem, was sich ereignet habe. Sie habe deutsche Freunde und habe sich auch Monate in Deutschland aufgehalten. „Ich übermittle den Einwohnern von Unterlüß meine besten Grüße. Ich hoffe, dass unsere gemeinsame Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät und dass Sie unsere Geschichte auch an künftige Generationen weitergeben“, heißt es in dem Schreiben abschließend.
Joachim Gries
Von Joachim Gries