Das Leid der ehemaligen Verschickungskinder hat in den vergangenen Monaten viele Menschen berührt, auch im Landkreis Celle. Es hat nicht lange gedauert, bis jetzt im Januar die ersten Übersichtsbücher erschienen sind. Nachdem sich die einstigen Verschickungskinder in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen und in Foren, aber auch öffentlich in Zeitungen wie der CZ, von ihren Erfahrungen berichtet haben, wissen sie nun, dass sie nicht alleine sind. Es waren vielmehr Millionen von Kindern, die nach dem Krieg aus ihren Familien herausgerissen und auf weite Reisen kreuz und quer durch die Bundesrepublik geschickt wurden.
Autorin Anja Röhl war selbst Verschickungskind
Nun hat Anja Röhl, selbst früheres Verschickungskind und Initiatorin der Verschickungskinder-Bewegung, ein Buch herausgebracht, in dem sie versucht, die Praxis der Kinderverschickung in die Tradition der „Kinderlandverschickung“ zu stellen, die schon unter den Nazis praktiziert worden ist. Die Sonderpädagogin legt mit „Das Elend der Verschickungskinder“ nun ein Grundlagenwerk vor, dem sicher weitere Regionalstudien folgen werden.
Ursachenforschung und Einzelschicksale
Die Autorin gliedert ihr Werk wie folgt: Sie beschreibt, wie sich erst vor kurzem Verschickungskinder gefunden haben, blickt in die Literatur und nähert sich dem Begriff „Verschickung“ kritisch an, auch vor dem Hintergrund erster empirischer Zahlen. Den Schwerpunkt ihres 305 Seiten starken Buches hat sie neben der Ursachenforschung (hier zeigt sie neun Stränge auf) auf Kindererholungsheime in acht Regionen gelegt. Die Schilderungen ehemaliger Verschickungskinder machen fast die Hälfte des Buches aus. Mit Scheidegg und Berchtesgaden sind zwei Luftkurorte im Süden Deutschlands darunter. Das „Seehospiz“ auf Norderney erhielt eine eigenes Kapitel. Heime auf zwei weiteren Nordseeinseln, nämlich Föhr und Borkum, werden beleuchtet. Schließlich sind noch drei Kurorte in Niedersachsen mit jeweils eigenen Kapiteln vertreten: Bad Salzdetfurth, Bad Rothenfelde und Bad Sachsa.
In sieben Regionen gegliedert
Nach der umfangreichen Berichterstattung zu Verschickungskindern im September vergangenen Jahres in der CZ hatten sich zahlreiche Betroffene bei uns gemeldet. Nun würden wir gerne wissen, wer noch in einer der oben genannten sieben Regionen zur Kur war und darüber offen mit Namen oder anonym berichten möchte. Wir sind nicht an Schwarzweiß-Malerei interessiert, sondern möchten versuchen, ein Abbild dessen zu erreichen, wie es für die damaligen Kinder war. Wir sind von daher an neutralen, positiven wie negativen Berichten interessiert.
Cellerin berichtet von Schlägen
Bad Sachsa: So schrieb uns eine Eldingerin, die im Alter von zwei bis drei Jahren Ende der 1940er Jahre in Bad Sachsa zur Kur war. „Es war grauenhaft“, schreibt sie, ohne Details zu nennen. Sie hat 1963 Kinderkrankenschwester in einem Kinderheim gelernt. „Da hat es so etwas nicht gegeben.“ Und da sie dachte, dass man Ende der 1960er Jahre klüger geworden wäre, ließ sie es zu, dass auch ihr Sohn zu einer Kinderkur geschickt wurde. Er kam nach St.-Peter-Ording. „Wir haben es gut gemeint, aber er kam nach vier Wochen total verändert zurück.“ Eine 1957 geborene Cellerin schrieb zu ihrer Kur in Bad Sachsa: Sie berichtet von Schlägen, wenn man während des Mittagsschlafs auf die Toilette musste, davon, dass sie gezwungen wurde, das Erbrochene zu essen, und: „Briefe, die wir an unsere Eltern gesendet haben, wurden eingesammelt und uns wurde versprochen, dass sie verschickt werden würden. Sie kamen nie an!“
Kind aus Bergen kam verstört zurück
Die Eltern eines 1960 geborenen Mädchens aus Bergen berichteten ihr, dass sie als total verängstigtes und verstörtes Kind zurückkam. Die Kinderärztin zu Hause riet, diese Ängste gar nicht zu beachten. „All dieses hatte fatale Folgen und hat mein Leben sehr geprägt. Viele Ängste sind geblieben, unter Heimweh habe ich lange gelitten und mich dafür selbst verurteilt. Klassenfahrten waren anfangs der Horror. Seit meinem zwölften Lebensjahr leide ich immer wieder unter Depressionen und war mehrmals in Therapie“, erzählte die Cellerin, der es seit vier Jahren besser geht.
Cellerin berichtet aus "Seehospiz"
„Seehospiz“ Norderney: Die Cellerin Birgit Lehne, deren ramponierten Teddy aus Kindheitstagen wir in der Printfassung der CZ dreimal groß abgedruckt haben, hat ihre negativen Verschickungserfahrungen im „Seehospiz“ Norderney gemacht. Auch sie berichtete davon, dass Kinder ihr Erbrochenes aufessen mussten. Ein 1957 geborener Celler war ebenfalls auf Norderney zur Kinderkur. Die „Erzieherin“ hat sein Gesicht in den Teller, der mit einer Haferschleimsuppe und seinem Erbrochenen gefüllt war, gedrückt und ihn gezwungen, das aufzuessen. Sein Aufenthalt war durch Strenge und Gehorsam geprägt.