Am Dienstag nach der Wahl hat Kirsten Lühmann die Fraktionssitzung in Berlin fest eingeplant. Gewählt werden soll der Vorsitzende, der Nachfolger von Peter Struck, um für die SPD die Koalitionsverhandlungen zu führen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lühmann in Berlin ankommt, ist nicht schlecht. Platz acht auf der Landesliste der SPD dürfte ein sicherer Platz sein. „Ich versuche, den Wahlkreis zu holen. Das ist nicht unmöglich.“
Struck hat große Fußstapfen in der Bundespolitik hinterlassen, Lühmann weiß das. Gleichwohl werde sie sich die Schuhe anziehen. Dass sie sie nicht gleich ausfüllen kann, ist ihr klar, ist ihr Herausforderung. „Struck war Fraktionsvorsitzender, Minister, er ist ein Mann, er ist Jurist“, umreißt die 45-Jährige den Unterschied. Sie werde viele Dinge in seiner Nachfolge tun.
Von Wahlprognosen hält Lühmann nichts, sie hätten nur einen gewissen Unterhaltungswert. Wenn 40 Prozent nicht wüssten, ob sie überhaupt zur Wahl gehen und was sie wählen werden, sei noch viel drin für ihre Partei. Fest steht für die Kandidatin nur, dass die extreme Kräfte stärken, die nicht zur Wahl gehen. „Ein Herr Rieger wird sein Potenzial geschlossen zur Wahl kriegen.“
Die hohe Zahl der Unentschlossenen, der Abstinenten führt Lühmann darauf zurück, dass es die Politik in den vergangenen Jahren nicht geschafft habe, den Menschen klarzumachen, was wichtig sei und wie Politik funktioniere. Ein Beispiel sei die Bundeswehr in Afghanistan. Die Mehrheit der Bevölkerung sei dagegen. „Politik soll uns vernünftig erklären, warum wir deutsche Soldaten da hinschicken.“ Auch in der Politik gäbe es viele, die das nicht wüssten.
Die Auseinandersetzungen in Afghanistan seien völkerrechtlich kein Krieg, de facto aber schon, sagt Lühmann. Die Bundeswehr sei am Hindukusch, um die Sicherheitslage zu verbessern. Nicht um Brunnen zu bohren, das könnten Hilfsorganisationen besser. Und Polizisten sollten Polizisten ausbilden. Kriegerische Auseinandersetzungen brächten es mit sich, dass auch deutsche Soldaten sterben. Sie halte das Engagement in Afghanistan für gerechtfertigt. Sonst würden dort ungehindert islamistische Terrorcamps aufgebaut werden, gäbe es in Deutschland mehr Terror.
Hermannsburg ist seit 20 Jahren Lühmanns Heimat, die erste, wie die Bundestagskandidatin sagt. Denn ihr Vater war bei der Bundeswehr, was zehn Umzüge und den Besuch von sechs verschiedenen Schulen bedeutete. Mit 18 zog sie zu Hause aus und ging zur Polizei. Die Heide hatte sie sich in den Kopf gesetzt, das klappte auch, als in Bergen ein neues Kommissariat gebildet wurde. „Die andere Heimat ist Deutschland, Europa, die Welt“, sagt Lühmann. Sie wollte auch mal ins Ausland, „aber mit Familie geht das nicht“.
Nach 26 Jahren im Beruf mit viel Einblick in die Gesellschaft ist für Lühmann jetzt der richtige Zeitpunkt, in den Bundestag zu gehen. Die Töchter Rebecca (17), Sarah (18) und Miriam (20) sind groß. Ehemann Jürgen, mit dem sie seit 1988 verheiratet ist, ebenfalls Polizeibeamter, ist seit Anfang des Jahres Alleinverdiener. Die Kandidatin hat sich vom Dienst freistellen lassen. Anders würde man das nicht schaffen“, sagt sie über den Wahlkampf.
Nach der Wahl werde ihr Leben wieder strukturierter verlaufen. 22 Wochen Plenararbeit leiste der Bundestag pro Jahr, dazu kämen zwei Wochen Klausurtagung ihrer Fraktion. Bleibe viel Zeit für den Wahlkreis. Zeit, um in den Ortsvereinen ihrer Partei, in Firmen von positiven wie negativen Entwicklungen zu erfahren. Zeit, um sich rechtzeitig zu informieren. Zeit, um sich für den Polizeistandort Uelzen, den Bundeswehrstandort Bergen zu engagieren. Zeit, um das Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen. Die Politikverdrossenheit sei verbreitet, weil die Menschen von der Politik enttäuscht sind. „Die Menschen sind nicht unpolitisch, sie engagieren sich, sie haben andere Formen gefunden“, sagt Lühmann und nennt als Beispiel die kreativen Aktionen um das Landhaus Gerhus.
Eins schließt Lühmann aus: Dass Lutterloh in der Diskussion um ein Atommüll-Endlager noch mal eine Rolle spielen wird. Dort hatte Mitte der 70er Jahre eine Probebohrung stattgefunden. Die ungelöste Endlagerfrage müsse von Experten beantwortet werden. Die von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel angeregte ergebnisoffene Erkundung sei nicht verhandelbar. Das Endlage Asse habe es gezeigt, Salz sei nicht geeignet. Das gelte auch für Gorleben, Salz sei per se unsicher, weil Wassereinbrüche zu erwarten seien.
Um sich fit zu halten und um den Kopf frei zu bekommen, läuft Lühmann. Und genießt dabei den Blick auf Hermannsburg. Sie liest gern, etwa 1500 Bücher stehen in den Regalen. Der Fernseher läuft allenfalls mal für einen Krimi zur Entspannung. „Die Familie ist das, was erdet“, sagt Kirsten Lühmann. Mit Ehemann und Töchtern und Enkelkind Susann (2) will sie auch künftig am Küchentisch zusammensitzen. Nicht nur zum Essen, auch wenn sie sagt, dass sie gern kocht.
SPD-Bundestagskandidatin Kirsten Lühmann mit Ehemann Jürgen und der zweijährigen Enkeltochter Susann. Fotos: Müller
Fragen an Lühmann
Was kann die Politik tun, um in Deutschland mehr Arbeit zu schaffen, von der man auch leben kann?
Hierzu sind vor allem zwei Maßnahmen notwendig: Eine Stärkung der Gewerkschaften und die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes. Denn durch starke Gewerkschaften können angemessene Tarifverträge ausgehandelt werden. Da dies leider nicht überall möglich ist, muss der Staat eine Bezahlung, die zum Bestreiten des Lebensunterhalts ausreicht, durch Mindestlöhne sicherstellen.
Braucht Deutschland einen bundesweit geltenden gesetzlichen Mindestlohn?
Ja. Eine angemessene Bezahlung muss in einem sozialen Staat jederzeit sichergestellt sein. Zudem sind Mindestlöhne auch ein wirtschaftspolitisches Instrument, mit dem die Binnennachfrage gestärkt werden kann. Die Wirtschaftskrise zeigt nämlich auch, dass eine zu starke Exportabhängigkeit Risiken birgt. Die Erfahrungen von 20 europäischen Ländern, die Mindestlöhne eingeführt haben, zeigen, dass Mindestlöhne existenzsichernde Arbeitsplätze schaffen und sichern. Deshalb ist die Forderung nach Mindestlöhnen Kern sozialdemokratischer Politik.
Wie lässt sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern?
Schlüssel zur Verbesserung ist der Ausbau der Ganztagsbetreuung. Dazu ist es erforderlich, die weniger sichtbaren Hemmnisse abzubauen, die einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf entgegenstehen. Es ist notwendig, dass Steuersystem geschlechtergerecht zu gestalten, um die Situation von Frauen zu verbessern, denen Schwangerschaften nach wie vor häufig berufliche Nachteile bescheren.
Sind in Zeiten der Wirtschaftskrise und ausufernden Staatsverschuldung Steuersenkungen vertretbar?
Nein. Steuersenkungen zu versprechen ist unseriös und verkennt die Realität. Gerade im Hinblick auf zukünftige Generationen ist es nicht möglich Steuern zu senken, da dem Staat dann die Mittel für ausreichende Bildung und Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes fehlen. Zudem hat die Wirtschaftskrise gezeigt, dass der Staat stark genug bleiben muss, um in ökonomischen Krisenlagen die Möglichkeiten zur effektiven Marktintervention zu haben.
Soll Deutschlands Freiheit weiterhin in Afghanistan verteidigt werden?
Ja. Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ist notwendig. Afghanistan hat über viele Jahre der Al Quaida als Rückzugsgebiet gedient und ist nach wie vor ein instabiler Staat. Ein Abzug der ausländischen Truppen würde wahrscheinlich den Rückfall des Landes an die Taliban bedeuten und so die globale Bedrohungslage verschärfen. Dies muss durch Militär und zivile Hilfe verhindert werden.
Hat die Kernenergie hierzulande noch eine Zukunft?
Nein. Kernkraft ist nicht die Energie der Zukunft. Ökologisch nachhaltige Energiepolitik zu machen, bedeutet konsequent auf erneuerbare Energien zu setzen, die einen großen Wachstumsmarkt darstellen. Zudem bleibt die Kernenergie eine nicht kalkulierbare Risikotechnologie, insbesondere bei der ungelösten Endlagerproblematik.
Politik ist das Forum für Ideen und Hilfe bei deren Umsetzung
Erfahrung bringt Lühmann aus Kommunalpolitik und Gewerkschaft mit
HERMANNSBURG (jg). Ernsthaft Politik macht Kirsten Lühmann seit dem Jahr 2000. Da war die jüngste Tochter acht Jahre alt, der richtige Zeitpunkt, in der Kommunalpolitik mitzumischen. In ihre Zeit als Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Sport und Soziales falle die Einführung einer Ganztagskindergartengruppe, der Kauf des Gebäudes für das Jugendzentrum Fiesta, die Aufnahme des Waldkindergartens in den
Kindergartenbedarfsplan, die Hortbetreuung in der Grundschule und noch einiges mehr. „Das hab ich nicht allein gemacht“, unterstreicht Lühmann. Sie habe Verbündete gesucht und gefunden. Nicht nur in der Politik, sondern auch bei der Kirche oder den Vereinen. Politik könne nicht der Alleinunterhalter, sondern müsse das Forum sein, das Ideen entwickle und helfe, sie umzusetzen.
In der Hermannsburger Kommunalpolitik laufe es hervorragend. Alle kennen sich, nach der Ratssitzung, in der harte Auseinandersetzungen geführt werden und über Inhalte konstruktiv gestritten wird, sitze man zusammen. Es geht um das gemeinsame Ziel. Im Kreistag, wo Lühmann SPD-Fraktionsvorsitzende ist, sei das anders, hier träte die Parteizugehörigkeit mehr in den Vordergrund. Mit CDU-Fraktionschef Joachim Müller gäbe es eine gute Zusammenarbeit. In vertrauensvollen Gesprächen werde ausgelotet, wieweit die CDU mitziehe. „Wenn es in den Kreistag geht, ist eigentlich alles klar“, sagt Lühmann. In öffentlichen Sitzungen seien die unterschiedlichen Positionen kaum zu dokumentieren.
Ihr Kreistagsmandat will Lühmann behalten, schließlich sitze sie für den Wahlkreis im Bundestag und bekomme so die Probleme aus erster Hand mit. Intensiv werde der Austausch mit den Landräten in Celle und Uelzen künftig sein. Ob sie weiter dem Hermannsburger Gemeinderat angehören wird, lässt sie offen. Den Kommunalwahlkampf 2011 hat sie aber fest eingeplant.
Erfahrungen hat Lühmann bei der Deutschen Polizeigewerkschaft gesammelt, ihren Posten als stellvertretende Landesvorsitzende will sie in diesen Tagen aufgeben. Sie ist zudem stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes und Tarifunion. Als Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr hatte sie Kontakt mit den Fraktionen im Bundestag. Der fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe Sicherheit würde sie sich gerne anschließen. Und ihren Schwerpunkt in der Innenpolitik setzen. „Ich hoffe, dass die Fraktion das genauso sieht.“
Am vergangenen Sonnabend gab es für Kirsten Lühmann in Celle Unterstützung vom SPD-Chef Franz Müntefering.
Von Joachim Gries