Besondere Klangerfahrung bei der Andacht in der Celler Stadtkirche

„Menschen am Leidensweg Jesu“, so bezeichnete die Celler Stadtkirche ihre Reihe der Musikalischen Andachten, die alltäglich in der Karwoche für eine gute halbe Stunde Gläubige wie Musikinteressierte gemeinsam in das Gotteshaus brachte. Da dieses Jahr nun bereits zum zweiten Mal keine der großen Passionen Bachs oder ein vergleichbares Werk aufgeführt werden konnte, deshalb hat man sich seitens der Stadtkirchenpastoren und des obersten Celler Kirchenmusikers Michael Voigt dazu entschieden, den Weg Jesu zum Kreuz, durch kleine textliche und musikalische Streiflichter auf diverse Figuren im Umfeld Jesu zu erhellen. Choräle aus Bachs Passionskantaten: In jeder Andacht hat man sich textlich auf eine dieser Figuren konzentriert und Voigt hat dazu für die ersten vier Andachten Musik Bachs ausgesucht, die genau auf diese Figuren abgestimmt war. Das waren konkret diverse Choräle und Bearbeitungen einzelner Sätze aus Passionskantaten Bachs und – ganz besonders interessant – auch Arrangements für Orgel von Teilen der Matthäuspassion. So gab es von Montag bis Donnerstag jeweils an jedem Abend mindestens eine Rarität in Form einer Bach-Bearbeitung zu hören: jede auf ihre jeweils unterschiedliche Weise hörenswert. Da diese Bearbeitungen allesamt aus viel späteren Zeiten als der Bach-Zeit stammten, spiegelten sie auch die jeweils unterschiedlichen Zeit- und Lokalstile wieder. Spätromantische Steigerungswelle: Während Gerhard Weinbergers Arrangement der Sinfonia aus „Ich hatte viel Bekümmernis“ genauso wie die Arie „Buß und Reu“ aus der Matthäuspassion in der Bearbeitung des Francokanadiers Marc Boniteau relativ notengetreu der Bach-Vorlage folgte, war der Chor „Das Lamm, das erwürget ist“ aus der gleichen Kantate wie die genannte Sinfonia in der Fassung von Franz Liszt eine gigantische spätromantische Steigerungswelle, in der der ganze Schluss von Liszt auf dessen einzigartige, überhöhende Weise dazu erfunden wurde. Großer Sinfoniesatz für die Orgel: Noch ganz anders dann der Schlusschor aus der Matthäuspassion in der Fassung des großen französischen Orgelsinfonikers Charles-Marie Widor. Dieser hat die Grundproportionen der Musik Bachs samt ihrer formalen und thematischen Anlage übernommen, aber eine Art großen Sinfoniesatz für Orgel daraus gebaut. Die damit entstandene Fassung konnte zwar sehr beeindrucken, aber es blieb auch nicht verborgen, dass man für eine rundum gelungene Wiedergabe eigentlich eine elektronische Setzeranlage bräuchte, um subtil immer wieder die Klangfarben anpassen zu können. Da die nachgebaute Barockorgel der Celler Stadtkirche über derlei natürlich nicht verfügt, darum wirkte die Wiedergabe dieses Stücks an der Celler Orgel dann doch das eine oder andere Mal etwas holprig. Aber sei’s drum: Die Raffinesse und der Einfallsreichtum bis hin zu den unorthodoxen Registerkombinationen mit der Voigt seine Orgel registriert und ihr immer wieder verblüffende Klangfarben entlockt, das faszinierte sehr. Es ist eben doch jedes Mal eine besondere Freude, wenn Michael Voigt seiner Lust an ungewöhnlichen Klangfarben nachgibt und die ausgetretenen Pfade konventionellen Registrierens verlässt. Und dadurch zeigt, dass die Celler Stadtkirchenorgel trotz der bekannten diversen Mängel großes klangliches Potential hat. Von Reinald Hanke