Celler Sprachwissenschaftler Henning Lobin: Corona verändert Sprache

Seit über einem Jahr beschäftigt uns inzwischen die Corona-Pandemie. Wörter, die vorher kaum einer kannte, dominieren seitdem unseren Sprachgebrauch. Lockdown, Impf-Reihenfolge, Maskenpflicht – das sind nur einige der prominentesten Beispiele. CZ-Redakteurin Marie Nehrenberg-Leppin hat anlässlich des Tags der Stimme mit dem Sprachwissenschaftler Henning Lobin über Wortneuschöpfungen, verändertes Kommunikationsverhalten und sein liebstes Corona-Wort gesprochen. Corona verändert deutsche Sprache: Herr Lobin, wie hat Corona unsere Sprache in den vergangenen Monaten verändert? Die Pandemie hat auf zweierlei Weise auf den Sprachgebrauch eingewirkt: Zum einen sind sehr viele neue Wörter entstanden, von denen manche sicherlich in Gebrauch bleiben werden. Zum anderen hat sich unsere Kommunikation ganz praktisch verändert: Wenn wir Masken tragen, dann kann man den Mund und Teile des Gesichts nicht mehr sehen. Die Wahrnehmung der Mundbewegungen ist wichtig für das Verständnis gesprochener Sprache, und die Mimik hilft uns dabei, uns in den anderen hineinzuversetzen. Fehlt beides, ist sprachlicher Austausch schwieriger und bietet häufiger Anlass zu Missverständnissen. Corona sprachlich in einer Liga mit Zweitem Weltkrieg und der Zeit der Wende: Sie sagte bereits, dass einige Wörter uns wohl erhalten bleiben werden. Gab es das in dem Ausmaße schon einmal? Dass ein Ereignis so viele Wortneuschöpfungen hervor gebracht hat? Dass in so kurzer Zeit so viele neue Wörter in die deutsche Sprache hineindrängen, hat es schon sehr lange nicht mehr gegeben. Generell passiert das in Phasen großen gesellschaftlicher und politischer Umbrüche: in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Umbrüchen der späten Sechziger oder in der Wendezeit. Nimmt man diese Phasen als Maßstab, dann reiht sich die Corona-Pandemie schon jetzt in die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts ein, zumindest in sprachlicher Hinsicht. Neue Wörter wie "Geistermeister" oder "Impfneider" Was sind Ihre persönlichen „neuen“ Lieblingswörter, die Corona in unseren Wortschatz gebracht hat? Ich war im letzten Jahr von dem Wort „Geistermeister“ angetan, also der in „Geisterspielen“ ermittelte Sieger einer Spielserie. Neuerdings sind viele Wörter im Zusammenhang mit dem Impfen hinzugekommen. Ein Wort wie „Impfneid“ bezeichnet zwar nicht gerade etwas Schönes, aber es ist ein Beispiel zugleich für die Kreativität und die Effektivität , die durch die Wortbildungsprinzipien des Deutschen ermöglicht wird. Solche Möglichkeiten gibt es nicht in jeder Sprache. Kürzlich wurden englischsprachige Medien darauf aufmerksam und wollten mehr dazu von uns wissen. So kam es zu Berichten und Interviews beim BBC, im Guardian und in der Washington Post, in denen es um den Witz und den Ideenreichtum in der deutschen Sprache ging. 1400 neue Corona-Wörter bislang registriert: Gibt es eine Liste, die alle Corona-Neuschöpfungen festhält? Am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim dokumentieren wir schon seit Jahrzehnten neu aufkommende Wörter. In der Kategorie Corona befinden sich mittlerweile an die 1400 Wörter. Dabei nehmen wir noch nicht einmal jedes Wort auf, das irgendwann einmal verwendet wurde. Wir stellen Kandidatenwörter „unter Beobachtung“, um zu ermitteln, ob eine gewisse Gebrauchshäufigkeit zu verzeichnen ist. Erst dann wird ein Wort aufgenommen. Worte verlieren schnell an Bedeutung: Verlieren Wörter an Bedeutung, wenn man sie wieder und wieder nutzt? Beispiel: Beim ersten Mal klang „Lockdown“ noch gefährlich, nach allerhöchster Eisenbahn, nach extremer Ausnahmesituation. Jetzt hat es gefühlt viel von seiner Furcht eingebüßt. Ist das normal? Ja, der Gebrauch prägt die Erwartung und auch den Informationswert eines Wortes. Ein sehr oft gebrauchtes Wort lenkt weniger die Aufmerksamkeit auf sich als ein selten verwendetes. Und im Gebrauch ändert sich auch die Bedeutung eines Wortes. Es wird eingepasst in verschiedene Gebrauchszusammenhänge, und dabei wird die oftmals aus einer Fachsprache kommende Ursprungsbedeutung verbreitert. So funktioniert es übrigens auch mit ganzen Aussagen: Wenn uns bereits zum fünften Mal gesagt wird, dass eine harte Zeit vor uns liegt, dann entfaltet dieser Satz eine geringere Wirkung als beim ersten Mal. Pandemie verändert auch Kommunikation: Fernab der Wörter – Wie verändert sich unsere Kommunikation durch Homeoffice und Videokonferenzen? Leidet unsere Fähigkeit, uns normal zu unterhalten? Die berufliche Kommunikation wird sich ganz bestimmt verändern nach der kollektiven Erfahrung monatelanger Heimarbeit mit Video-Konferenzen. Aber die Art, wie wir als Menschen Gespräche führen, ist so schnell nicht beizukommen. Diese Fähigkeit hat sich in Jahrzehntausenden entwickelt. Ich glaube, dass wir alle, wenn wir denn wieder ohne Einschränkungen miteinander in Kontakt treten können, uns wieder schnell daran gewöhnen werden und miteinander reden wie zuvor. Prof. Dr. Henning Lobin (56) ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim. Seine Kindheit verbrachte er in Celle. Im März veröffentlichte er sein erstes Buch: Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert. Die Liste der Corona-Wörter: Am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim haben Lobin und andere Forscher inzwischen rund 1400 neue Wörter rund um das Thema Corona gesammelt. Die Wörter und Wortverbindungen reichen etwa von Abstandsgebot und AHA-Regel über Balkonklatscher, C-Wort, Coronials, Drive-in-Test, Superspreaderereignis und Wellenbrecherlockdown bis zu Zoomparty. Die Forscher führen auf einer Internetseite alle Corona-Begriffe mit Erklärung auf: www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp