Celle hätte auch eine Uni haben können: Vor 75 Jahren Hochschule gegründet

Ja, wenn man in Celle vor 67 Jahren doch etwas weitsichtiger gewesen wäre. Dann wäre Celle heute womöglich Universitätsstadt und nicht Osnabrück. Denn im Jahr 1953 wanderte die Pädagogische Hochschule (PH) Celle von der Altstädter Schule eben 175 Kilometer weiter westlich. Sie bildete die Keimzelle der heutigen Universität Osnabrück, die 1974 gegründet wurde. Die Adolf-Reichwein-Hochschule Celle entstand vor bald 75 Jahren, am 15. Januar 1946. Die Entstehungsgeschichte der Hochschule für die Ausbildung von Volksschullehrern und ihre nur siebenjährge Geschichte hat Hans-Hagen Nolte aufgearbeitet. Untertitel: „Von Kräften, die am Werke blieben“: Der Untertitel seines Buches lautet: „Von Kräften, die am Werke blieben“. Er verweist auf die große Leistung des Autors: Er verortet die Gründer der PH in ihrer weltanschaulichen Bedingtheit. Damit macht sich der 76-jährige Celler sicher nicht nur Freunde in Celle, denn er stößt so manches Pädagogendenkmal vom Sockel. Allen voran sind da der Schulrat und Gründer des Stadtarchivs, Heinrich Pröve, und der Gründer der Stadtkantorei, Fritz Schmidt, zu nennen. Der Schlüsselsatz in Bezug auf die biografischen Kontinuitäten nimmt außer auf die beiden Celler Pädagogen auch noch Bezug auf Rudolf Lochner und Hellmuth Kittel, damals bekannte Vertreter der Jugendbewegung, die wegen ihrer NS-Belastung nirgendwo anders als in Celle einen Lehrauftrag erhielten: Die Biografien aller vier belegen noch einmal eindrucksvoll, wie schwer es war, sich herauszuhalten, wie verlockend es war, die Angebote des NS-Regimes für das eigene Fortkommen zu nutzen und wie leicht es war, ab 1945 so weiter zu machen, als wäre nichts gewesen. Auch mit Vater in Buch abgerechnet: Wie schon bei seinem Vater, dem CZ-Redakteur Hans Nolte, in seinem Buch „Messerscharf – Versuch, sich seinen Nazi-Vater von der Seele zu schreiben“ (2017) geht der Autor sehr kritisch an die Sache heran. Er setzt sich ausführlich mit der NS-Vergangenheit des PH-Personals auseinander. Er weist nach, dass die meisten der späteren Celler Professoren aus der „Wandervögel“-Jugendbewegung stammten, die dem NS-Regime gar nicht so fern war. Einblicke in Schul- und Bildungspolitik: Doch Nolte, der selbst Lehrer und Schulleiter war, legt viel mehr als nur ein Abrechnungsbuch vor. Er blickt auch weit zurück in die Bildungs- und Schulpolitik. So veranschaulicht er, wie alle Versuche, das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland abzuschaffen und eine Einheitsschule zu etablieren, gescheitert sind. So meint Hans-Hagen Nolte: Bis in die Gegenwart hält sich ausgerechnet die Hinterlassenschaft der „Belasteten“, obwohl sie schon lange nicht mehr demokratischen Bedürfnissen genügt. Das dreigliedrige Schulsystem aus Volksschule/Hauptschule, Mittelschule/Realschule, Gymnasium überliefert aus der Ständegesellschaft der Kaiserzeit, ist noch immer nicht (ganz) am Ende. Autor Kritiker des dreigliedrigen Schulsystems: Nolte meint, dass das dreigliedrige Schulsystem nicht der Förderung der wahren Talente, sondern nur zur Wahrung der Ansprüche der Oberschicht dient, die sich dadurch von den weniger Privilegierten abgrenzt. Das hätten die Befreier nach der NS-Zeit zwar erkannt, sie seien aber genauso an den alten Netzwerken gescheitert wie mit der Entnazifizierung. Hochschulleiter war in einigen NS-Organisationen: Und was waren das für Männer, die in Celle in den Jahren 1946 bis 1953 dafür sorgten, dass Hunderte von Volksschullehrern in ihrem Sinne ausgebildet wurden? Da war zum Ersten der Leiter der PH, Hans Bohnenkamp (1893 bis 1977), in den letzten Kriegsmonaten militärischer Leiter der Panzertruppenschule Bergen. Er war Mitglied in einem halben Dutzend NS-Organisationen, auf der anderen Seite aber befreundet mit dem 1944 von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfer Adolf Reichwein, nach dem die PH Celle benannt worden ist. Hochverehrter Musiker führte auch die HJ: Bohnenkamp gewann Fritz Schmidt (1886 bis 1977) als Professor für seine Hochschule. Schmidt war seit 1922 Musiklehrer am KAV-Gymnasium und gründete 1923 die Stadtkantorei. Drei Jahre vor der 100-Jahr-Feier dieser Celler Institution enthüllt Nolte nun auch Schmidts NS-Vergangenheit. Er engagierte sich nämlich nicht nur für Schule und Kirche, sondern auch für die Machthaber. So war er ab 1939 Scharführer der HJ- und der BDM-Spielschar und ließ dort NS-Liedgut singen. Laut Nolte gelang Schmidt „der schwierige Spagat zwischen Kreuz und Hakenkreuz erstaunlich mühelos“. Wegen seiner „bescheidenen NS-Karriere“ will Nolte Schmidt aber keinesfalls mit Lochner, Kittel oder Pröve gleichsetzen. In Celle ist Fritz Schmidt noch heute hochverehrt. So trafen sich bis zuletzt am Heiligen Abend in der Kalandgasse Sänger, um anlässlich des Geburtstages des einstigen Kantors und ihm zur Ehre vor dessen Wirkungsstätte und Wohnhaus gemeinsam zu singen. Heinrich Pröve war ein Nazi: Der in Wathlingen geborene Bauernsohn Heinrich Pröve (1892 bis 1967) war nur kurz Lehrender an der PH Celle. Die britische Militärregierung entfernte ihn noch im Gründungsjahr der Adolf-Reichwein-Hochschule wegen seiner Belastung aus dem Hochschuldienst. Er war bis 1930 Rektor der Celler Mittelschule am Heiligen Kreuz. Zwischendurch studierte er und betätigte sich als Verfasser verschiedener Bücher. So verfasste er die Chronik seines Heimatdorfes und gab auch das Schulbuch „Dich ruft Dein Volk“ heraus, ein Ansammlung schlimmster NS-Propaganda. 1928 gründete er das Celler Stadtarchiv. Nach Lehrtätigkeit in Altona und Schulrats-Ämtern in Emden und Burgdorf wurde er 1934 Schulrat in Celle. Ein Jahr zuvor war er in die NSDAP eingetreten. Er bemühte sich 1938 ergebnislos um den Aufbau einer Bauernführerschule in Celle. Er tat das mit folgender Begründung: Jeder Deutsche soll Nationalsozialist werden mit dem Auftrag, am Bau des neuen Reiches mitzuhelfen, dem Platz, an den er gestellt ist. (...) zum Schutz des deutschen Blutes und zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes. (...) Damit steht der Bauer an den Quellen unseres völkischen Lebens überhaupt. Rudolf Lochner war ein Rassist: Rudolf Lochner (1895 bis 1978) zählte an der PH Celle zu den Professoren der ersten Stunde. Der Sudentendeutsche war Gründungsmitglied der „völkisch-großdeutschen Freischar“, die sich für ein deutsches Sudetenland einsetzte. Über die Tschechen schrieb Lochner 1937: Das hindert sie aber nicht daran, einen recht beachtlichen Angriffsgeist zu entfalten, den ihre deutschen Nachbarn seit Jahrhunderten wellenartig zu spüren bekommen. Vom Nachbarn nehmen, was man kann, ihn aber dabei schlagen, verdrängen, austilgen; das ist ihre Taktik. Dem deutschen Einfluß verdanken sie fast alles an Kulturgütern; sie sind germanisierte Slawen. Er lehrte an NS-Musteruniversität: Den Erziehungswissenschaftler zeichneten „radikaler Rassismus und Antsemitismus“ aus, so Nolte. Adolf Hitlers Politik bezeichnete Lochner 1936 als „großdeutsches Einigungswerk unseres Führers“. Zu dem Zeitpunkt grauste es Lochner, wenn ein „naturalisierter Ostjude“ und ein „afrikanischer Neger“ Staatsbürger sein könnten und sich Deutsche nennen dürften. Diese Aussagen befähigten ihn offenbar dazu, von 1942 bis 1945 an der NS-Musteruniversität Posen zu lehren. Nach seinen Celler Jahren wirkte Lochner an der PH Lüneburg weiter. In einem Nachruf bei einer akademischen Gedenkveranstaltung fiel kein kritisches Wort. Er agierte gegen Karl Barth: Helmuth Kittel (1902 bis 1984) war als Pfadfinder von 1930 bis 1933 der letzte Bundesführer der Deutschen Freischar. Wie der spätere Celler PH-Leiter Bohnenkamp war auch er 1933 der SA beigetreten. Auch schon 1933 schloss er sich den „Deutschen Christen an, die schon Jahre vor den „Nürnberger Rassegesetzen“ eine „Rassenvermischung“ als Todsünde brandmarkten. In den 1930er Jahren gehörte der Theologe Kittel zum Beraterteam des NS-Kirchenminister Hanns Kerrl. Als neuer Dekan der Theologischen Falkultät Münster sorgte Kittel dafür, dass der Verfasser der Gründungsurkunde der „Bekennenden Kirche“, der Theologe Karl Barth, seinen Ehrendoktortitel verlor. Barth musste vor den Nazis fliehen. 1945 stand Kittel bei Bohnenkamp auf der Matte und bot seine Dienste an. In Münster wollte man ihn nach Kriegsende nicht mehr haben. Kurt Blankes NS-Aktivität: Gehört zwar nur am Rande zu diesem Thema, aber: Vom 1964 zum Celler Oberbürgermeister gewählten Kurt Blanke (1900 bis 1997) sei aktuenkundig, so der Autor, dass dieser in der Reichspogromnacht mit seinem Auto Brandfackeln und Benzinkanister zur Celler Synagoge transportiert habe, die dann aber glücklicherweise nicht angezündet wurde. Aber auch ehrenwerte Professoren: Nicht vergessen werden soll, dass es auch einige wenige Celler Professoren gab, die sich nicht mit dem NS-Regime eingelassen hatten, so wie der Deutsche Meister im Zehnkampf des Jahres 1924, Hermann Westerhaus (1900 bis 1973), der dann in Celle Sporterziehung lehrte und von 1957 bis 1968 in Osnabrück als Professor weiter in diesem Bereich wirkte. Übrigens besuchte auch der spätere Inspekteur des Heeres, Johannes Poeppel (1921 bis 2007) die PH Celle. Das war also schon eine Einrichtung mit großer Ausstrahlung. Hans-Hagen Nolte: „Adolf-Reichwein-Hochschule Celle (1946-1953). Von Kräften, die am Werke blieben“, Taschenbuch, 233 Seiten, 13,80 Euro, wegen des Corona-Lockdowns sei der Hinweis auf Internet-Buchhandlungen wie Amazon als Bezugsquelle erlaubt: ISBN 978-3-753122-18-2.