Cellerin wird 103 Jahre alt: Die Altencellerin hat Ostpreußen im Herzen

Als Herta Schulz ein Kleinkind war, wütete die Spanische Grippe auf dem Erdball. Durch diese Pandemie kamen vor 100 Jahren wohl mehr als doppelt so viele Menschen ums Leben wie durch die direkten Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Von der Spanischen Grippe hat die Frau, die heute 103 Jahre alt wird, aber fast genauso wenig mitbekommen wie von der derzeitigen Corona-Pandemie, denn ihren im Stil der 1970er Jahre gemütlich eingerichteten Flachdach-Bungalow verlässt sie nur noch höchst selten. Für die kurzen Spaziergänge mit Tochter Christa um den Block haben ihre Söhne ihr eine Rampe vor den Hauseingang gebaut. Haut am Auge geschädigt: Vor kurzem musste sie das Haus aber doch öfter verlassen, denn es war diagnostiziert worden, dass die Haut am rechten Auge so geschädigt war, dass sie 19-mal bestrahlt werden musste. „Ich war immer viel in der Sonne. Das würde ich heute nicht mehr so machen“, sagt die vor 103 Jahren in Ostpreußen als Herta Bräutigam geborene Altencellerin. Vater starb kurz nach ihrem Abitur: Als sie zehn Jahre alt war, kaufte ihre Familie das Gut Vollmarstein bei Sensburg. Mit 19 Jahren bestand sie ihr Abitur am dortigen Horst-Wessel-Gymnasium. Wenige Monate später starb ihr geliebter Vater. „Das war ein Schock für mich.“ Die Mutter bewirtschaftete das 600 Morgen große Gut alleine weiter. Mit 20 den eigenen Lehrer geheiratet: Als Schülerin verliebte sie sich in ihren Mathematiklehrer. „Vorher stand ich in Mathematik immer auf Zwei, bei ihm rutschte ich ab auf Drei, aber allmählich bekam ich dann auch mal wieder eine Eins und auch kleine Geschenke von ihm wie Büchlein“, erzählt die alte Dame. Als sie 16 war, fragte sie ihr Lehrer, Studienrat Gerhard Schulz, ob sie ihn heiraten würde. Weil er aber früh erkannt hatte, „dass Adolf Hitler ein Verbrecher war und er nie in die Partei eingetreten ist“, wurde er des Öfteren zwangsversetzt. Dennoch sahen sich die beiden wieder und tatsächlich trat Herta Bräutigam mit ihrem Bräutigam im Jahr 1938 vor den Traualtar. Ihr Ehemann war Nazi-Gegner: In ihrer geliebten Heimat (Herta Schulz: „In Ostpreußen ist der Himmel so blau und die Wolken sind so weiß im Sommer.“) bekam sie die ersten ihren insgesamt sieben Kinder, die später allesamt studierten. Schon 1944 verhalf eine ehemalige Mitschülerin, die in Sensburg Amtsärztin geworden war, ihr zur Flucht gen Westen. Ihr Ehemann war nach Barsinghausen versetzt worden und so hatten die Bestrafungen der Nazis in diesem Fall etwas Gutes für die Familie: Sie war im sicheren Westen wieder vereint. Hier erlebten sie das Kriegsende und die Befreiung vom Hitler-Regime. Hier wurden auch zwei weitere Kinder geboren, ehe die Familie 1951 nach Celle umzog, wo der Vater eine Anstellung am Gymnasium Ernestinum fand. Zwei weitere Kinder vervollständigten das Eheglück. Zwei Christas kümmern sich um die Hochbetagte: „Sie hatte es nicht immer leicht mit meinem Vater. Er war sehr pingelig und bestimmte alles“, sagt Tochter Christa Schulz. Die 79-Jährige lebt als einziges der Kinder im Landkreis Celle und zum Glück gleich um die Ecke. Sie pflegt ihre Mutter und bringt ihr die Nahrungsmittel, aus denen die Seniorin noch selbst schmackhafte Speisen zaubert, meistens sind es vegetarische. Das macht sie seit einigen Monaten nicht mehr für sich alleine, denn sie hat eine neue Mitbewohnerin. Ihre Enkelin, die wie ihre Tante Christa Schulz heißt, hat eine Stelle bei der Stadtbibliothek Celle gefunden und ist bei ihr eingezogen. Wenig später besorgte sie noch einen weiteren Mitbewohner, nämlich ein Hündchen aus dem Tierheim. Geheimrezept: „Sich regen bringt Segen“ Herta Schulz ist traurig darüber, dass in den vergangenen Jahren Seh- und Hörkraft nachgelassen haben. So kann sie nicht mehr das Harmonium spielen, weil sie die Noten nicht mehr entziffern kann. Sie spielte aber noch mit über 100. Auch das Lesen klappt nicht mehr wie früher, wo sie vor allem Biografien verschlungen hat. So spielt sich ihr Leben vorwiegend in einem Raum ab, der ganz auf sie zugeschnitten ist. „Ich komme noch alleine in mein Bett“, sagt sie. Das ist ihr ganz wichtig. Sie ist auch in der Wohnung mit dem Rollator unterwegs. Nach dem Geheimrezept für ihr hohes Alter befragt, sagt sie „Sich regen bringt Segen.“ Und Tochter Christa ergänzt: „Ihr Glaube und die Familie geben ihr Kraft.“ 14. Urenkel ist unterwegs: Wenn sie auch seit einigen Jahren nicht mehr zum Gottesdienst gehen kann, so ist Jesus immer bei ihr. Er schaut sie von zwei Bildern an der Wand an, wenn sie im Bett liegt. Hier hängen auch zahlreiche Fotos und Gemälde ihrer Familie, die neben den sieben Kindern und ihren Partnern zwölf Enkelkinder und 13 Urenkelkinder umfasst („Der 14. Urenkel ist unterwegs. Er wird Arne heißen.“) Jedes ihrer Kinder und Kindeskinder erhält von Herta Schulz zu den Geburtstagen immer noch einen handgeschriebenen Gruß. Die meisten Geburtstage kennt sie auswendig. Siebenmal die alte Heimat besucht: Neben den Familienfotos an ihrem Bett hängt eine Ostpreußenkarte. Die verlorene Heimat hat sie seit 1975 insgesamt siebenmal wieder gesehen. Die letzte Reise machte sie im Jahr 2011 dorthin, da war sie schon 93 Jahre alt. Von ihrer Reiselust zeugen bestimmt an die 50 Fotoalben, die in mehreren Zimmern verteilt sind. Seit 50 Jahren in heutiger Wohnung: Von schlimmen Krankheiten ist Herta Schulz verschont geblieben. Heute muss sie Tabletten gegen Bluthochdruck und für Entwässerung nehmen. Ihre Tochter wickelt ihr die Beine. Einmal ist sie allerdings schwer gestürzt und das Ergebnis des Oberschenkelhalsbruches war, dass das Ehepaar seine Doppelhaushälfte an der Altenceller Schneede verkaufte und den Bungalow in einer Siedlung baute, die nun auch schon 50 Jahre alt ist. Dort fühlt sie sich noch immer wohl und inmitten einer netten Nachbarschaft geborgen. Eigentlich wollte sie Kinderärztin werden: Und wer weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie sich nicht in ihrer Pauker verguckt hätte? Eigentlich wollte die für Naturwissenschaften Begeisterte Medizin studieren und Kinderärztin in Namibia werden. Warum ausgerechnet im damaligen Südwest-Afrika? „Das war damals deutsch“, sagt sie, und die Tochter ergänzt: „Meine Mutter war eben immer unternehmungslustig.“ Und warum hat ihr späterer Mann wohl gerade auf sie ein Auge geworfen? Man erkennt es noch heute in ihrem bisweilen kecken Blick. „Meine Mutter war damals übermütig und sie war blond und blauäugig“, so Tochter Christa. Geburtstag in aller Ruhe begehen: Den Geburtstag wird sie in aller Ruhe begehen. Schon den 100. Ehrentag feierte sie etappenweise, denn allzu viele Menschen auf einmal, das wird ihr manchmal zu viel. Vor Corona hat sie so wenig Angst wie vor 100 Jahren vor der Spanischen Grippe. Doch an die Hygienevorschriften hält auch sie sich. 22. Dezember 1917: Geburt in Ostpreußen 1937: Abitur und Tod des Vaters 1938: Hochzeit mit Gerhard Schulz 1939 bis 1953: Geburt der sieben Kinder Arnold, Christa und Bernward (in Ostpreußen), Hertha, Christian (in Barsinghausen) und Friedrich Wilhelm und Gustav Adolf (in Celle) 1944: Flucht nach Barsinghausen 1951: Umzug nach Celle seit 1970 lebt sie im Haus in Altencelle.